Die Europäische Union steht vor einem historischen Stresstest. Während außenpolitisch globale Spannungen eskalieren, rückt innenpolitisch der rechte Rand immer weiter ins Zentrum.
In Polen gewann der rechtskonservative Kandidat Karol Nawrocki die Präsidentschaftswahl mit 50,89 Prozent der Stimmen. Sein Sieg stellt einen Rückschlag für die proeuropäische Regierung von Premierminister Donald Tusk dar, da Nawrocki voraussichtlich zentrale Reformvorhaben blockieren wird.
Gleichzeitig kündigte der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders den Austritt seiner Partei PVV aus der Regierungskoalition an, nachdem seine Forderungen zur Verschärfung der Asylpolitik nicht umgesetzt wurden. Dies führte zum Zusammenbruch der Regierung und zu bevorstehenden Neuwahlen.
Diese Entwicklungen verdeutlichen die zunehmende Instabilität innerhalb der EU, die sowohl von außen unter Druck steht als auch von innen herausgefordert wird.
Ein zerreißendes Umfeld: Druck von allen Seiten
Die internationale Lage lässt Brüssel kaum Luft zum Atmen. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine dauert an und scheint kein Ende zu nehmen. Während die militärische Front stagniert, wachsen die wirtschaftlichen Belastungen für Europa. Energiepreise, Rüstungsausgaben und die anhaltende Flüchtlingsbewegung setzen nationale Haushalte unter Druck. Gleichzeitig sind die politischen Ziele der EU, etwa der Klimaschutz, die Digitalisierung oder eine gemeinsame Migrationspolitik, kaum noch finanzierbar oder politisch mehrheitsfähig.
Auch die transatlantische Beziehung steht auf wackeligen Beinen. Die geplanten US-Strafzölle unter Präsident Trump bedrohen die europäische Exportwirtschaft direkt. Zwischen einem sich verschärfenden Handelskonflikt und wachsender geopolitischer Abhängigkeit muss sich Europa behaupten. Genau an diesem Punkt wird jedoch die innere Schwäche des Kontinents besonders deutlich.
Innenpolitische Erosion: Der Aufstieg der Rechten
Während Europa außenpolitisch taumelt, rücken im Innern politische Kräfte nach rechts, die oft offen gegen die Grundlagen der EU arbeiten. Der jüngste Wahlsieg des konservativen Karol Nawrocki in Polen ist dabei nur das jüngste Beispiel einer ganzen Welle.
In Polen setzte sich Nawrocki mit 50,9 Prozent knapp gegen den liberalen Warschauer Bürgermeister Trzaskowski durch. Zwar ist das Präsidentenamt formal schwach, doch Nawrocki kann durch Vetos die pro-europäische Politik von Premierminister Tusk blockieren. Seine Ablehnung gegenüber der EU-Integration, gegen die Klimapolitik und eine liberale Gesellschaftsordnung sind klare Warnsignale. Nawrocki steht für ein nationalistisch-klerikales Polen, das sich wieder vom EU-Kern entfernt.
In den Niederlanden ist die Situation ähnlich dramatisch. Dort ließ Geert Wilders seine rechtspopulistische PVV aus der Regierungskoalition aussteigen – ausgerechnet wegen einer zu liberalen Asylpolitik. Der Koalitionsbruch kam nicht überraschend, doch er zeigt, wie sehr rechte Parteien inzwischen politische Agenden diktieren können, auch ohne selbst den Premier zu stellen. Neuwahlen stehen bevor – und Wilders’ Einfluss dürfte noch wachsen.
Von der Ausnahme zur Struktur
Auffällig ist: Was einst als Ausnahme galt, wird zunehmend zur politischen Normalität in Europa. In Italien regiert Giorgia Meloni mit der nationalistischen Fratelli d’Italia, die sich immer mehr als machtbewusste Kraft im EU-Rat positioniert. In Ungarn verfolgt Viktor Orbán weiterhin einen nationalistischen Kurs, der sich offen gegen die Agenda Brüssels richtet und stattdessen enge Beziehungen zu Russland und China sucht. In Frankreich liegt Marine Le Pen trotz wiederholter politischer Skandale und laufender Korruptionsermittlungen in den Umfragen stabil an der Spitze. Ihre Partei, der Rassemblement National, hat sich in den letzten Jahren systematisch als wählbare Regierungsalternative etabliert. Sollte sie bei den nächsten Präsidentschaftswahlen das Élysée erobern, würde erstmals eine dezidiert rechtsextreme Kraft die Führung einer der größten Demokratien Europas übernehmen – mit unabsehbaren Folgen für die gesamte EU.
Auch in den wirtschaftlichen Zentren Europas zeigt sich diese Entwicklung. In Österreich erzielte die rechtspopulistische FPÖ bei den letzten Wahlen über 28 Prozent und liegt aktuell in den Umfragen an erster Stelle. In Deutschland rangiert die AfD in mehreren ostdeutschen Bundesländern als stärkste Kraft. Bei der Europawahl 2024 erreichte die AfD bundesweit über 15 Prozent, obwohl die Partei mit internen Skandalen konfrontiert war und vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet wird.
Dieser Aufstieg der Rechten ist keine kurzfristige Reaktion auf Krisen. Er ist Ausdruck eines tieferliegenden Vertrauensverlusts in die politischen Institutionen, der sich mit jeder weiteren Entscheidungslosigkeit in Brüssel verstärkt. In Bereichen wie Migration, Inflation, Krieg und Energiekrise wirken die Antworten der EU häufig technokratisch, langsam oder sogar widersprüchlich. Rechte Parteien hingegen bieten einfache Erklärungen, benennen vermeintliche Schuldige und präsentieren klare Feindbilder.
Strategische Ohnmacht in Brüssel
Die EU als Ganzes scheint auf diese Entwicklung kaum vorbereitet. Während in der Außenpolitik eine einheitliche Linie oft schon an einem Veto scheitert, wirkt die Kommission im Innern zögerlich. Es fehlt an politischen Visionen, an einem neuen europäischen Narrativ, das mehr ist als technokratische Effizienz oder Marktintegration. Eine Union, die auf Stabilität und Demokratie gegründet wurde, hat keinen Plan für den Umgang mit Regierungen, die genau das untergraben.
Europa steht an einem Wendepunkt. Die kommenden Jahre werden darüber entscheiden, ob die Union zu einer geopolitischen Kraft werden kann oder im Sog ihrer inneren Widersprüche zerfällt. Dafür braucht es zweierlei: eine glaubwürdige Strategie nach außen und eine konsequente Verteidigung der demokratischen Grundordnung nach innen.
Der Aufstieg der extremen Rechten in Europa ist keine Momentaufnahme, sondern Teil eines strukturellen Wandels. In einer Welt voller geopolitischer Umbrüche wird Europa nur dann bestehen, wenn es die eigene demokratische Ordnung verteidigt und gleichzeitig handlungsfähig nach außen bleibt. Wer das versäumt, öffnet Tür und Tor für eine Zukunft, in der Nationalismus, Misstrauen und autoritäre Rezepte wieder zum politischen Normalfall werden. Das wäre das Ende der europäischen Idee, wie wir sie kannten.