Wilders’ Rückzug ist mehr als nur eine Koalitionskrise
POLITIK
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Wilders’ Rückzug ist mehr als nur eine KoalitionskriseGeert Wilders’ Koalitionsausstieg zeigt ideologische Bruchlinien und, wie sehr rechtspopulistische Positionen Europas Mainstream erreicht haben. Exklusiv bei TRT Deutsch ordnet Ex-Wilders-Vertrauter Joram van Klaveren die Lage ein.
Wilders’ Rückzug ist mehr als nur eine Koalitionskrise. / Foto: Reuters
4. Juni 2025

Die Koalition scheiterte an Wilders’ Forderung nach einer harten Migrationspolitik: Grenzschließungen für Asylsuchende, Militäreinsätze an den Grenzen, Abschiebungen syrischer Geflüchteter mit befristetem Aufenthalt. Die Koalitionspartner – VVD, NSC und BBB – warfen ihm vor, die Regierung aus Eigeninteresse zu sprengen.

Viele deuteten den Rückzug als kalkulierten Schritt vor möglichen Neuwahlen. Doch Joram Jaron van Klaveren, früheres PVV-Mitglied und heute muslimischer Kommentator, sieht das anders:

„Er war bereits die stärkste Partei, kontrollierte die Asylpolitik – hatte theoretisch alles: Macht, Werkzeuge, Einfluss. Aber die Leute, die er einsetzte, haben versagt. Es war hausgemachtes Chaos.“

Van Klaveren betont, Wilders habe die NSC fälschlich für mangelnden Fortschritt verantwortlich gemacht – obwohl diese schlicht die Verfassung respektierte:

„Man kann nicht das Recht ignorieren, nur weil man schnellere Ergebnisse will.“

Sein Fazit: „Er hat die einzigen Parteien verlassen, die bereit waren, mit ihm zu arbeiten.“

Außenpolitischer Zündstoff: Israel als Wendepunkt

Migration war der offizielle Auslöser – doch ein entscheidender, oft übersehener Faktor in Wilders’ Rückzug war die Außenpolitik, konkret: Israel.

Wilders gilt als einer der entschiedensten Pro-Israel-Politiker Europas. Die PVV versteht sich als Verfechterin eines „jüdisch-christlichen Westens“ – oft in Abgrenzung zum Islam. Doch laut van Klaveren kam es genau hier zu tiefen Spannungen innerhalb der Koalition.

„Anfangs war die Koalition geschlossen pro-israelisch. Doch nach den Massendemonstrationen gegen Israels Vorgehen in Gaza – nicht nur von Muslimen, sondern auch vielen Niederländern – begannen einige Koalitionspartner umzudenken.“

Schon kleinste Abweichungen waren für Wilders inakzeptabel.

„Er sagte wörtlich: ‚Ich halte das nicht mehr aus.‘ Selbst minimale Israelkritik war ihm zu viel.“

Da die PVV das Außenministerium nicht kontrollierte, konnte die NSC – unter öffentlichem Druck – den Ton mäßigen. Für Wilders war das mehr als nur politischer Kontrollverlust: Es war ein Bruch mit seiner ideologischen Identität.

„Es ging nicht nur um Migration oder Parteiprobleme“, so van Klaveren. „Er hatte das Gefühl, seine roten Linien würden aufgeweicht – und Israel war eine davon.“

Das Beispiel zeigt, wie Außenpolitik – insbesondere in Bezug auf Israel – zu einem Gradmesser für Loyalität in rechten Bündnissen werden kann.

Klima des Misstrauens

Die Krise in Den Haag ist nicht nur eine politische, sondern auch eine gesellschaftliche – vor allem gegenüber Muslimen. Van Klaveren erinnert daran, dass Diskriminierung bereits lange vor der PVV-Regierungsbeteiligung existierte:

„Muslime landeten auf Terrorlisten, verloren Jobs, saßen in Haft – später stellte sich heraus: unschuldig. Doch der Staat ließ sie allein.“

Islamische Organisationen kämpfen mit eingefrorenen Konten und selektiven Finanzverboten. Kirchen und Parteien dürfen Spenden aus dem Ausland annehmen – Moscheen nicht. Selbst die niederländische Steuerbehörde räumte systematische Benachteiligung ein.

Ein Bericht des niederländischen Kultursoziologischen Planungsamtes (SCP) von 2021 warnte, dass besonders Muslime und orthodoxe Christen in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft unter Druck geraten.

„Es ist nicht nur ein Gefühl – staatliche Stellen sagen selbst, dass etwas schiefläuft. Doch unter einer anti-islamischen Regierung passierte nichts.“

Van Klaveren hofft, dass eine neue Regierung endlich strukturelle Veränderungen einleitet – vor allem in Bezug auf das, was er einen „tief islamophoben Verwaltungsalgorithmus“ nennt.

Europaweites Netzwerk der Rechten

Der niederländische Fall ist kein Einzelfall. Rechte Parteien sind europaweit vernetzt – und gewinnen an Macht.

„2012 begannen wir mit dem Aufbau eines internationalen Netzwerks: Vlaams Belang, FPÖ, Schwedendemokraten, Vox, Le Pens Partei, später auch die AfD.“

Diese Zusammenarbeit reicht bis ins Europäische Parlament, wo sie inzwischen den drittgrößten Block bilden. Strategien werden geteilt, Kooperationen gefestigt.

„Sie professionalisieren sich. Und sie gewinnen überall an Einfluss.“

Nationalismus, Identitätspolitik und migrationsfeindliche Rhetorik prägen heute nicht nur den Diskurs – sondern auch die politische Praxis.

Mitte-Parteien in der Zwickmühle

Angesichts des rechten Aufstiegs stehen Mitte-Parteien vor einem Dilemma: Isolieren – oder integrieren? In Deutschland gilt die „Brandmauer“ zur AfD als Vorbild. Doch van Klaveren ist skeptisch:

„In den Niederlanden haben wir das Gleiche versucht. Es hat nicht funktioniert. Die PVV ist trotzdem gewachsen.“

Wird die extreme Rechte eingebunden, zeigt sich oft ihre politische Inkompetenz – doch das allein stoppt ihren Aufstieg nicht. Vielmehr übernehmen Mitte-Parteien zunehmend ihre Positionen.

„Man braucht die Rechte gar nicht mehr in der Regierung, um rechte Politik zu machen. Das ist die Ironie – Wilders sagte immer: ‚Am Ende werden sie sowieso unsere Politik übernehmen.‘ Und er hatte recht.“

Ein warnendes Beispiel sei Dänemark: eine offiziell linke Regierung mit harter rechter Migrationspolitik. Die Normalisierung solcher Positionen hat laut van Klaveren einen hohen Preis:

„Das legitimiert Islamfeindlichkeit und Fremdenhass. Aber es ist die Realität.“

Glauben, Angst und kulturelle Entfremdung

Hinter all dem steht ein kultureller Riss – zwischen einer säkularisierten Mehrheitsgesellschaft und religiösen Minderheiten. Van Klaveren sieht in der Säkularisierung eine zentrale, aber oft übersehene Triebkraft der Spaltung:

„Religion ist fremd geworden. Die Menschen haben Angst davor. Das betrifft Christen genauso – aber Muslime, die anders aussehen und leben, sind besonders leichte Ziele.“

Der Islam, ohnehin lange als „der Andere“ konstruiert, stößt in einer entkirchlichten Gesellschaft auf noch weniger Verständnis.

„Es gibt eine Gruppe, die glaubt, praktiziert, sichtbar ist – und deshalb leicht angreifbar.“

Die Krise in Den Haag handelt nicht nur von Asylpolitik – sie ist ein Spiegel Europas. Ein Europa, in dem Mitte-Parteien nach rechts rücken, in dem Religion misstrauisch beäugt wird – und in dem die eigentliche Gefahr nicht im Rücktritt eines Politikers liegt, sondern in dem, was politisch und kulturell unkommentiert bleibt.


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