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Europas Suche nach Sicherheit ohne die USA
Mit Trumps Rückkehr eskaliert die transatlantische Unsicherheit. Europa sieht sich ohne US-Schutz zunehmend verwundbar. Während die EU nach neuen Strategien sucht, eröffnet die Krise Türkiye geopolitische Chancen.
Europas Suche nach Sicherheit ohne die USA
Europas Suche nach Sicherheit ohne die USA
5. März 2025

Am 23. Februar stand Deutschland nicht nur vor einer der wohl kritischsten Wahlen seit dem Zweiten Weltkrieg, sondern befand sich zugleich in einer Phase, in der sowohl Europa als auch das NATO-Bündnis mit großen Herausforderungen konfrontiert waren.

Die Ampel-Koalition war bereits zuvor am 6. November 2024, am Morgen nach Donald Trumps Wahlsieg, zerbrochen. Nach dem Verlust des Misstrauensvotums am 16. Dezember wurde klar, dass es in Deutschland zu Neuwahlen kommen würde. Wenige Tage später begann eine Welle von Terroranschlägen, die mit dem Angriff auf einen Weihnachtsmarkt am 20. Dezember ihren Anfang nahm.

Neun Tage vor den Bundestagswahlen hielt der US-Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine provokante Rede, in der er sich gegen ganz Europa stellte. Gleichzeitig fanden in Saudi-Arabien US-russische Verhandlungen statt, bei denen die Ukraine und europäische Staaten bewusst ausgeschlossen wurden. Trump drohte zudem damit, Europa mit zusätzlichen Zöllen zu belegen und den Sicherheitsschirm über dem Kontinent zurückzuziehen.

Schließlich wurde der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Washington D.C. im Weißen Haus demütigend behandelt, während die Trump-Regierung eine eindeutig europa- und ukrainefeindliche Pro-Putin-Haltung einnahm.

All diese Entwicklungen signalisieren, dass Deutschland und Europa auf regionaler und internationaler Ebene in eine beispiellos turbulente Phase eingetreten sind.

Krise der westlichen Nachkriegsordnung nach Zweitem Weltkrieg

Die Wurzeln der internationalen Politik reichen bis zum Westfälischen System und der Entstehung der Nationalstaaten. Doch um das heutige internationale System zu verstehen, führt kein Weg am Zweiten Weltkrieg vorbei – ebensowenig an der daraus resultierenden Weltordnung, geprägt durch die UNO, NATO, den IWF, die Weltbank und das Bretton-Woods-System.

Eine der größten Folgen dieses Systems und des Zweiten Weltkriegs war die bipolare Weltordnung: das westliche Bündnis unter US-Führung und der von der Sowjetunion geführte Ostblock – geprägt durch den Gegensatz von Kapitalismus und Kommunismus.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wich die bipolare Weltordnung einer unipolaren unter US-Hegemonie. Doch der Russland-Ukraine-Krieg stellt eine erneute Ost-West-Konfrontation dar. Russlands Annexion der Krim 2014 und der Kriegsausbruch vor drei Jahren weckten in Europa alte Ängste vor russischer Expansion. Unter Joe Biden stand der Westen – ähnlich wie im Kalten Krieg – geschlossen gegen Russland und unterstützte die Ukraine umfassend.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die größte Bedrohung für Europa die sowjetische Expansion gewesen. Doch ein weiteres Problem wurde zunehmend sichtbar: Europas Abhängigkeit von den USA in Sicherheitsfragen. Die Entmilitarisierung Deutschlands und der Fokus auf Wirtschaftswachstum führten zur Vernachlässigung militärischer Stärke – eine sicherheitspolitische Schwäche, die heute zu den größten Krisen Europas gehört.

Von Allianz zu Rivalität: Europas Problem mit den USA

Die europäischen Staaten waren sich mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten vollauf bewusst, dass Europa vor schwierigen Zeiten stehen könnte und dass die Gefahr besteht, die wirtschaftliche, diplomatische und sicherheitspolitische Unterstützung der USA im Kampf gegen die russische Bedrohung zu verlieren. Doch die Rede von Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz sowie Trumps anschließende Drohungen gegenüber den europäischen Staaten in Form von Strafzöllen deuteten nicht nur auf eine nachlassende Unterstützung der USA hin, sondern auch auf eine mögliche Konfrontation zwischen den USA und der EU.

Damit sahen sich die europäischen Staaten nach Bidens Amtsende nicht nur plötzlich ohne amerikanische Unterstützung, sondern waren ebenso schockiert darüber, dass die USA sich in kürzester Zeit von einem Verbündeten zu einem geopolitischen Rivalen gewandelt hatten. Dass der ukrainische Präsident Selenskyj im Weißen Haus vor laufenden Kameras von Trump und seinem Vizepräsidenten herablassend behandelt wurde, wurde von den europäischen Staaten nicht nur als diplomatische Brüskierung der Ukraine verstanden, sondern auch als eine gezielte Botschaft an sie selbst.

Auch wenn es derzeit noch verfrüht wäre zu behaupten, dass das westliche Bündnis zerfallen ist, die NATO ihre Bedeutung verloren hat und eine echte geopolitische Rivalität zwischen den USA und Europa begonnen hat, so lässt sich angesichts der jüngsten Entwicklungen doch mit Sicherheit sagen, dass sich das internationale System – insbesondere der Westen – in einer Phase tiefgreifender Veränderungen befindet. Es könnte argumentiert werden, dass die Trump-Regierung eine bewusste Strategie verfolgt, um Europa durch Druck zu höheren Militärausgaben zu zwingen. Doch nach den jüngsten Ereignissen ist Europa gezwungen, sich auf das Worst-Case-Szenario vorzubereiten: die Möglichkeit, dass die USA tatsächlich eine isolationistische Politik verfolgen und Europa als geopolitischen Rivalen betrachten.

So haben europäische Staats- und Regierungschefs – mit Ausnahme einiger weniger wie Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán – nach der demütigenden Behandlung von Selenskyj im Weißen Haus ihre Unterstützung für die Ukraine öffentlich auf Social Media bekräftigt. In der Folge kamen in Großbritannien 17 europäische Staaten – darunter auch Türkiye – zu vorgezogenen Gesprächen über die Ukraine zusammen und schlossen die USA bewusst aus, um Strategien für eine Sicherheitsarchitektur gegen die russische Bedrohung ohne amerikanische Unterstützung zu entwickeln.

Deutschland und Türkiye am Scheideweg: Neue Herausforderungen und Chancen

Betrachtet man die Lage speziell aus deutscher und türkischer Perspektive, so steht in Deutschland die sich abzeichnende Koalition zwischen CDU/CSU und SPD vor einer großen Herausforderung: die Positionierung im Ukraine-Krieg und die Reaktion auf die zunehmend bündnisfeindlichen Signale aus Washington. Sollte es der neuen Bundesregierung nicht gelingen, diese Bewährungsprobe zu bestehen – also sowohl die europäische Sicherheit gegenüber Russland als auch die eigene Wirtschaft gegenüber potenziellen US-Strafzöllen zu schützen –, wird es äußerst schwierig sein, andere innenpolitische Probleme zu lösen und eine langfristig stabile Regierung zu etablieren.

Aus türkischer Sicht ist es bemerkenswert, dass Ankara an dem Gipfel in Großbritannien an der Seite von 16 europäischen Staaten teilnahm. Zudem häufen sich in den europäischen Medien in jüngster Zeit wohlwollende Berichte über Türkiye und Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Ein besonderes Beispiel hierfür ist das in Europa viral gewordene Bild, das die ukrainische Botschaft veröffentlichte: Erdoğan, der Selenskyj in Türkiye empfängt und dabei symbolisch einen Regenschirm hält.

All diese Ereignisse deuten darauf hin, dass die aktuelle Krise in Europa für Türkiye neue geopolitische Chancen eröffnen wird. Sollte sich die USA tatsächlich politisch aus Europa zurückziehen oder ihre Präsenz drastisch reduzieren, werden die europäischen Staaten – die jahrelang die türkischen Interessen ignorierten – gezwungen sein, nach einer engeren Zusammenarbeit mit Türkiye zu suchen. In einem solchen Szenario könnte Ankara eine ausgewogene Politik im Umgang mit den europäischen Staaten verfolgen und seine Interessen effektiver vertreten.


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