Die Bundestagswahl 2025 hat die politische Landschaft Deutschlands verändert. Mit einem Ergebnis von über 20 Prozent hat die Alternative für Deutschland (AfD) ihr bisher bestes Resultat erzielt und sich als Machtfaktor etabliert. Während die laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD zeigen, dass die etablierten Parteien weiterhin eine Brandmauer gegen die AfD aufrechterhalten, sind die institutionellen Möglichkeiten der größten Oppositionspartei zwar weiterhin sehr beschränkt. Jedoch bieten sich für eine Partei, deren Ziel die Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung und die Destabilisierung des politischen Systems ist, vielfältige Möglichkeiten, die öffentliche Meinung zu beeinflussen – insbesondere wenn sie auf die Unterstützung des Trump-Teams, Russlands und Chinas bauen kann.
Die vier Arenen der Ungleichheit
Obwohl die AfD eigentlich für ihren Anti-Amerikanismus bekannt ist, hat sich mit dem Wahlsieg Donald Trumps die Haltung zur US-Regierung diametral gewandelt. Einig ist man sich beim Ziel der Disruption, der gravierenden Umwälzung des Bestehenden. Das ist Elon Musks Geschäftsmodell und das strebt die AfD an, die ein anderes Deutschland und das Ende der Europäischen Union will. Dazu setzt sie auf gesellschaftliche Spaltung als Mittel.
Um zu verstehen, wie das funktioniert und wie die AfD ihren Wahlerfolg zu nutzen versucht, ist es hilfreich, auf das Konzept der „vier Arenen der Ungleichheit“ des Berliner Soziologen Steffen Mau zurückzugreifen. Mau argumentiert, dass sich gesellschaftliche Spaltung in vier zentralen Konfliktfeldern manifestiert: in der Verteilungs-, Anerkennungs-, Partizipations- und Repräsentationsarena. Die AfD nutzt diese Arenen gezielt, um ihre Agenda voranzutreiben und die Gesellschaft zu polarisieren. Was genau damit gemeint ist, schauen wir uns jetzt an.
Verteilungsarena: AfD als Stimme der Abgehängten
In der Verteilungsarena inszeniert sich die AfD als die „Stimme der Abgehängten“, insbesondere in strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands, wo sie bei der Bundestagswahl mit bis zu 40 Prozent der Stimmen erfolgreicher war als alle anderen Parteien. Sie fordert einen „Wohlstandschauvinismus“, der Sozialleistungen nur für Deutsche vorsieht, und lehnt Klimaschutzmaßnahmen als „Elitenprojekte“ ab.
Die etablierten Parteien stehen nun unter Druck, auf diese Forderungen zu reagieren. CDU/CSU und SPD könnten sozialpolitische Zugeständnisse machen, um die „Verteilungsfrage“ zu besetzen. Doch hier sind Union und Sozialdemokraten gespalten. Gleichzeitig riskieren sie, die Klimapolitik zu verwässern, was langfristig neue Ungleichheiten schafft – insbesondere mit Blick auf die Generationengerechtigkeit als einem weiteren Verteilungskonflikt mit Spaltungspotential.
Anerkennungsarena: Kulturkampf um Identität und Werte
In der Anerkennungsarena schürt die AfD Konflikte um nationale Identität, Migration und „Gender-Ideologie“. Sie stellt sich als Verteidigerin einer „wehrhaften Leitkultur“ dar und delegitimiert pluralistische Werte wie Vielfalt und Inklusion. Sprache und Kultur werden gegen die „Anderen“ in Stellung gebracht, die Grenzen des Sagbaren werden verschoben, Alltagsrassismus normalisiert, denn laut AfD gilt: „Das wird man doch noch sagen dürfen“.
Durch die AfD wird die Anerkennung marginalisierter Gruppen (z. B. Migranten) zum kulturellen Kampffeld. Die geplante CDU/SPD-Koalition steht vor einem Dilemma: Soll sie sich der AfD entgegenstellen und eine weitere Polarisierung riskieren? Oder soll sie konservative Positionen übernehmen und damit rechte Narrative normalisieren?
Partizipationsarena: Krise der Repräsentation
Der Erfolg der AfD ist auch ein Signal der Unzufriedenheit mit der politischen Repräsentation. Viele AfD-Wähler fühlen sich vom „politischen Establishment“ ausgeschlossen und nicht gehört. Ihr hoher Stimmenanteil spiegelt eine Krise der Repräsentation wider – insbesondere bei nicht-akademischen, prekär beschäftigten Bevölkerungsgruppen, aber auch bei Menschen, die viel erreicht haben, jetzt aber Abstiegsängste haben und sich vor zu viel Veränderung in zu kurzer Zeit fürchten.
Wenn CDU/CSU und SPD weiterhin auf „Technokratie“ setzen, Entscheidungen an Expertengremien oder Gerichte delegieren und gleichzeitig darauf verweisen, dass vieles nicht geht, weil es gegen EU-Recht verstößt, verfestigt sich das AfD-Narrativ der „Entmündigung des Volkes“. Die Partei profiliert sich als Anti-System-Kraft, die direkte Demokratie und nationale Souveränität propagiert, während Institutionen delegitimiert und diskreditiert werden. Aus der Erfahrung des totalitären Nationalsozialismus wurde im Grundgesetz ein Institutionensystem etabliert, das Machtkonzentration durch Gewaltenteilung und checks & balances verhindern sollte. Den Akteuren der Disruption stehen solche demokratischen Errungenschaften im Weg. Sie entgegen ihnen mit Kettensäge und Rollkommandos, die Staatsbedienstete massenhaft entlassen.
Die neue Fraktionsstärke hat aber auch praktische Bedeutung bei der Besetzung wichtiger Ausschuss- und Vizepräsidentenposten, bei der Tagesordnung, Redezeit im Plenum und Strategien, die neue Regierung mit Anfragen zu bombardieren und konstruktive Ausschussarbeit zu behindern.
Repräsentationsarena: Die Medienmacht der AfD
Mit über 20 Prozent wird die AfD in Talkshows und Debatten noch präsenter sein. Ihre Skandalisierungstaktiken und gezielten Provokationen im Parlament dominieren die mediale Agenda und verschieben das Sagbare – den Bereich akzeptabler politischer Meinungen – nach rechts.
Zivilgesellschaftliche Initiativen und Medien versuchen zwar, die AfD durch Enthüllungen über rechtsextreme Verbindungen zu delegitimieren. Doch ihre Wahlerfolge stärken das Framing der Partei als „Opfer des Mainstreams“ und befeuern ihre Anhängerschaft.
Langfristige Folgen für Politik und Gesellschaft
Damit können die jüngsten AfD-Wahlerfolge langfristige Folgen für Politik und Gesellschaft in Deutschland haben:
Sie erhöhen den Koalitionsdruck auf CDU/SPD: Die geplante Koalition muss überzeugende Antworten bei Themen wie Migration, Sicherheit und Klima liefern. Gleichzeitig schürt die AfD Ängste und Erwartungen, was Enttäuschungen wahrscheinlicher macht und das Narrativ der dysfunktionalen Alt-Parteien bedient, ohne dass die AfD selbst überzeugende Lösungen vorlegen muss. Übernimmt die neue Regierung hingegen AfD-Positionen, wird ihr Programmklau vorgeworfen und sie opfert Errungenschaften einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft, worum sich deren Feinde selbst nicht mehr kümmern müssen.
Sie befeuert Europäische Desintegration: Die AfD nutzt ihre gestärkte Position, um EU-Skeptizismus zu fördern. Konflikte mit Brüssel über Haushaltsdisziplin oder Flüchtlingsverteilung werden wahrscheinlicher. Da die EU aus Mangel an anderen Steuerungsmitteln vor allem mit dem Instrument der Regulierung arbeitet, ist der Vorwurf der Bürokratisierung und Überregulierung wohlfeil.
Radikalisierungsrisiko: Die AfD sieht sich durch den Erfolg ermutigt, verfassungsfeindliche Positionen zu normalisieren. Denn vielen Menschen wählen die AfD nicht trotz, sondern wegen ihrer rechtsextremen Positionen. Gleichzeitig erhöht sich der Druck auf den Verfassungsschutz, Teile der Partei zu beobachten, was wiederum die Opferrolle der AfD bedient.
Fazit: Die AfD als Agitator der Spaltung
Der Wahlerfolg der AfD verschärft die von Mau analysierten Ungleichheitsdynamiken:
- In der Verteilungsarena treibt sie eine Spaltung zwischen „Globalisierungsgewinnern“ und „-verlierern“ voran.
- In der Anerkennungsarena destabilisiert sie den gesellschaftlichen Konsens über Multikulturalismus.
- In der Partizipationsarena nutzt sie den Vertrauensverlust in demokratische Institutionen.
- In der Repräsentationsarena instrumentalisiert sie mediale Aufmerksamkeit für polarisierende Erzählungen. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, was ist. Denn wichtig ist, wie darüber gesprochen wird. Auch wenn bei Einwanderung und Kriminalität die Statistiken rückläufige Zahlen zeigen, ist die gefühlte Wirklichkeit eine andere, weil permanent darüber gesprochen wird und die Algorithmen eine andere Realität suggerieren.
Umgekehrt wachsen die Bäume der AfD nicht in den Himmel. Auch ihr Wählerpotential ist begrenzt. Es wird weiterhin Skandale, Anfängerfehler, interne Konflikte und vor allem Belege für die sachliche Inkompetenz und die hohen wirtschaftlichen und sozialen Kosten von AfD-Vorschlägen geben, solange Qualitätsmedien und Wissenschaft ihre Arbeit machen.
Auf europäischer Ebene scheitert die AfD bislang bei ihren Versuchen, gemeinsame Positionen mit anderen nationalistischen Parteien zu finden, weil es im Wesen ihrer Ideologie liegt, sich über andere Nationen zu stellen und Geschichte für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Der Nationalsozialismus oder die SS werden aber bei den potentiellen Partnern in Frankreich, Griechenland oder Italien anders gesehen als von weiten Teilen der AfD.
Die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD werden zeigen, ob die etablierten Parteien die AfD durch inhaltliche Klarheit und Handlungsfähigkeit eindämmen können – oder ob sie durch taktische Anbiederung oder parteipolitische Selbstblockaden ihrerseits die Spaltung weiter vertiefen. Die Zukunft der deutschen Demokratie hängt maßgeblich davon ab, wie diese Arenen der Ungleichheit politisch adressiert werden. Die AfD wird versuchen, Erwartungen zu schüren, die die Regierung möglichst nicht erfüllen kann. Dann wird sie tatsächliche oder behauptete Missstände betonen, um daraus ein Versagen der sogenannten Alt-Parteien und damit des politischen Systems insgesamt abzuleiten. All das ist nach Jahren populistischer Praxis in vielen liberalen Demokratien und das, was aus ihnen wurde, hinlänglich bekannt. Deutschland war bisher vergleichsweise resilient und die deutsche Demokratie wehrhaft. Es bleibt nicht nur zu hoffen, dass das auch in Zukunft so ist, sondern jeder sollte sich die JFK-Frage stellen, was sie oder er tun kann, dass das auch weiterhin gilt.