Der 15. Juli 2016 stellt einen der dramatischsten Wendepunkte in der jüngeren Geschichte von Türkiye dar. Der von der FETÖ organisierte Putschversuch kostete über 250 Menschen das Leben, verletzte Tausende und stürzte das Land in einen Ausnahmezustand. Neun Jahre sind seither vergangen. Um gesellschaftliche Erschütterungen wie Kriege, Putsche oder große Katastrophen zu verstehen und angemessen einzuordnen, braucht es drei verschiedene Perspektiven: die individuelle Hatıra (Erinnerung), die kollektive Hafıza (Gedächtnis) und das Risiko der Tekerrür (Wiederholung). Diese drei Konzepte sind untrennbar miteinander verbunden – sie bilden die Grundlage für eine widerstandsfähige Demokratie.
Der Abend, den niemand vergisst: Die individuelle Erinnerung (Hatıra)
Jede und jeder, der die Nacht des 15. Juli 2016 in Türkiye erlebt hat, weiß noch heute genau, wo er oder sie war, was er oder sie tat, fühlte und sah. Der Versuch eines Militärputsches war nicht einfach ein politisches Ereignis, sondern ein kollektiver Schockmoment, der Millionen von Menschen direkt betroffen hat. Die Bilder der Nacht, von Panzern auf Brücken, Kampfjets über Ankara und Menschen auf den Straßen, haben sich tief ins individuelle Bewusstsein eingebrannt. Diese Nacht ist zu einem biografischen Wendepunkt geworden.
Es war ein Moment, der Angst und Entschlossenheit, Unsicherheit und Zusammenhalt zugleich ausgelöst hat. Die persönlichen Erinnerungen sind emotional aufgeladen. Manche sind voller Schmerz, andere voller Stolz. Doch sie alle bilden das Fundament dafür, dass der 15. Juli nie in Vergessenheit gerät. Die individuelle Erinnerung ist nicht nur subjektiv, sondern auch politisch, denn sie speist die kollektive Haltung gegenüber Demokratie, Freiheit und staatlicher Ordnung.
Eine gemeinsame Verantwortung: Die kollektive Erinnerung (Hafıza)
Erinnerungen sind individuell, doch das kollektive Gedächtnis (Hafıza) ist das, was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Der 15. Juli ist längst zu einem Symbol geworden: für den Widerstand gegen illegitime Machtübernahme, für die Verteidigung demokratischer Prinzipien und für das Selbstverständnis einer Nation, die ihre Zukunft nicht aufgibt.
In Türkiye hat sich nach dem Putschversuch ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die Bedeutung dieses Tages entwickelt. Parteigrenzen und ideologische Unterschiede traten in den Hintergrund, als es darum ging, den Willen des Volkes zu schützen. Schulen, Universitäten, Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen arbeiten seitdem daran, die Geschehnisse nicht nur zu dokumentieren, sondern auch jungen Generationen zu vermitteln.
Damit es sich nicht wiederholt: Demokratische Resilienz und Wiederholung (Tekerrür)
Der Begriff Wiederholung (Tekerrür) erinnert uns daran, dass Geschichte sich nicht in der Vergangenheit abspielt, sondern jederzeit zurückkehren kann. Denn was nicht erinnert wird, wird verdrängt, und was verdrängt wird, verliert seine warnende Kraft. Der bosnische Staatsmann Alija Izetbegović formulierte es nach dem Völkermord in Srebrenica eindrücklich: „Vergessen Sie den Völkermord nicht. Denn vergessener Völkermord wiederholt sich.“ Für Putsche gilt das Gleiche. Aus diesem Grund ist das kollektive Gedächtnis kein nostalgisches Ritual, sondern eine demokratische Pflicht.
Theorie trifft Realität: Die widerständige Demokratie in Türkiye
Politikwissenschaftliche Modelle wie die „Political Causes“-Theorie gehen davon aus, dass politische Krisen wie Putsche, Skandale oder Systemzusammenbrüche in der Regel zu einem Rückgang politischer Partizipation führen. Auch in westlichen Demokratien lässt sich beobachten, dass solche Ereignisse, insbesondere bei jungen Menschen, zu politischer Resignation und Distanzierung führen.
In Türkiye jedoch zeigt sich seit Jahrzehnten ein anderes Muster. Seit dem ersten Militärputsch im Jahr 1960 haben alle folgenden Interventionen, darunter jene von 1971, 1980, 1997 und 2016, nicht zu einem Rückzug der Bevölkerung aus dem politischen Leben geführt. Im Gegenteil, sie haben eine stärkere Hinwendung zur Politik ausgelöst. Die Reaktion war nicht Angst oder Apathie, sondern Protest, Mobilisierung und demokratischer Wille zur Mitgestaltung.
Besonders nach dem gescheiterten Putschversuch von 2016 ist die politische Beteiligung deutlich angestiegen. Die Wahlbeteiligung lag bei den Präsidentschaftswahlen 2018 und 2023 bei über 85 Prozent. Auch die Zahl der Parteimitgliedschaften hat sich kontinuierlich erhöht. Seit 1984 ist die Anzahl der registrierten Mitglieder stetig gewachsen. Heute zählt Türkiye rund 15 Millionen Parteimitglieder, was einem historischen Höchststand entspricht.
Dieses Paradox lässt sich nur durch einen zentralen Faktor erklären, nämlich durch das starke, identitätsbasierte Verhältnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern von Türkiye und ihrem politischen System. Politische Partizipation wird nicht bloß als demokratisches Recht verstanden, sondern als moralische Verpflichtung. Sie gilt als bewusste Reaktion auf Versuche, die eigene Stimme zum Schweigen zu bringen.
Die politische Soziologie spricht in diesem Zusammenhang von einer „reaktiven Demokratie“, also einer Form der Partizipation, die unmittelbar aus Bedrohungen hervorgeht. In Türkiye ist diese Dynamik besonders ausgeprägt. Statt sich enttäuscht von der Politik abzuwenden, schließen sich viele Menschen aktiv politischen Bewegungen an. Nicht trotz der Krisen, sondern gerade wegen dieser Erfahrungen wird Teilhabe als notwendig empfunden.
Diese widerständige Form demokratischer Resilienz steht im Gegensatz zu vielen westlich geprägten Demokratietheorien. Sie verdient es, international stärker beachtet und wissenschaftlich tiefer analysiert zu werden.
Mehr als ein Gedenktag
Der 15. Juli ist mehr als nur ein Gedenktag. Er ist ein Prüfstein für das kollektive Gedächtnis, ein Spiegel der politischen Kultur und ein Gradmesser für die demokratische Reife. Wer sich erinnert, schützt. Wer verdrängt, setzt sich der Gefahr der Wiederholung aus. Türkiye hat sich am 15. Juli 2016 klar positioniert, nämlich für die Demokratie, für die Freiheit und für die Zukunft. Zugleich hat sie gezeigt, dass selbst die tiefsten Krisen nicht zwangsläufig zu Rückzug und Resignation führen müssen, sondern auch Anlass sein können für eine aktive Verteidigung des Gemeinwohls.