Politik
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Deutschland im Wandel – aber in welche Richtung?
Nach der Bundestagswahl steht Deutschland vor geopolitischen Weichenstellungen. Türkiye spielt dabei eine zentrale Rolle – doch kann Friedrich Merz die neue Realität pragmatisch erfassen oder bleibt er in alten Denkmustern gefangen?
Deutschland im Wandel – aber in welche Richtung?
25.02.2025, Berlin: Friedrich Merz, Unions Kanzlerkandidat und CDU Bundesvorsitzender, steigt am Bundeskanzleramt ins Auto nach einem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Foto: Michael Kappeler/dpa
1. März 2025

Die Bundestagswahl hat die politische Landschaft Deutschlands erneut verändert, und nun stehen die Koalitionsverhandlungen im Mittelpunkt. Union und SPD beginnen bereits mit den ersten Gesprächen, und viele erwarten eine erneute Große Koalition. Diese Regierung wird sich jedoch mit deutlich komplexeren innen- und außenpolitischen Herausforderungen auseinandersetzen müssen als ihre Vorgänger.

Im Inland dominieren Themen wie Migration und Integration, Bedrohung durch den Rechtsextremismus, wirtschaftliche Stagnation, Energiekrise und demografische Entwicklung die politische Agenda. Hinzu kommen Probleme im Bildungswesen, in der Verkehrsinfrastruktur und Fragen zur Nachhaltigkeit des Sozialstaates.

Doch während innenpolitische Herausforderungen mittel- bis langfristig gelöst werden können, erfordern die außenpolitischen Krisen unmittelbare Antworten. Besonders die europäische Sicherheitslage im Kontext des Russland-Ukraine-Kriegs, die veränderten Handelsbeziehungen mit China, die transatlantischen Spannungen mit den USA und die Führungsfrage innerhalb der EU setzen die neue Bundesregierung unter Druck.

Geopolitischer Umbruch – Deutschland muss sich positionieren

Die außenpolitischen Herausforderungen für Deutschland sind beispiellos. Die Zeiten, in denen sich Deutschland außenpolitisch auf die USA verlassen konnte, sind vorbei. Spätestens mit der Trump-Ära wurde deutlich, dass Washington vorrangig eigene Interessen verfolgt und Europa in sicherheitspolitischen Fragen oft sich selbst überlässt. Während der Ukraine-Krieg die Sicherheit Europas erschüttert, sorgt die Haltung der USA unter Trump für Unsicherheit innerhalb der EU. Washington verfolgt zunehmend eine Politik, die seine wirtschaftlichen Interessen priorisiert und Europa in vielen sicherheitspolitischen Fragen alleinlässt.

Besonders kritisch ist die US-Position zur Ukraine. Trump versucht, aus der Krise Kapital zu schlagen, indem er Kiew ein Abkommen aufzwingt, das die geopolitische Lage grundlegend verändern könnte. Europa, insbesondere Deutschland, ist alarmiert. Diese Situation erfordert eine eigenständige, strategische Außenpolitik – doch die künftige Bundesregierung scheint bislang keine klare Richtung einzuschlagen.

Friedrich Merz, der als neuer Bundeskanzler gehandelt wird, betont in seinen außenpolitischen Reden, Deutschland müsse eine stärkere Führungsrolle in Europa übernehmen.

Türkiye: Schlüsselfaktor für Europas Zukunft

In dieser geopolitischen Neuordnung kommt Türkiye eine besondere Bedeutung zu. Als NATO-Mitglied, Vermittler in internationalen Konflikten und wichtiger Wirtschaftspartner der EU spielt das Land eine zentrale Rolle für Europas Stabilität und Sicherheit.

Trotzdem bleibt Friedrich Merz gegenüber Türkiye skeptisch. Seine Haltung zur EU-Mitgliedschaft von Türkiye ist ablehnend; stattdessen spricht er von einer „privilegierten Partnerschaft“. Doch was bedeutet das konkret? Türkiye verfolgt eine eigenständige Außenpolitik – sei es in der Energiepolitik, der Sicherheitspolitik oder in diplomatischen Vermittlungen.

Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Türkiye sind stark: Deutsche Unternehmen investieren massiv in den türkischen Markt, und der bilaterale Handel wächst kontinuierlich. Eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit und eine realistische Beitrittsperspektive für Türkiye würden sowohl der deutschen als auch der europäischen Wirtschaft zugutekommen.

Pragmatismus statt Blockadepolitik

Die geopolitischen Realitäten erfordern von Deutschland eine strategische und pragmatische Diplomatie. Jahrzehntelang bewegte sich Deutschland außenpolitisch im Gleichschritt mit den USA. Doch spätestens seit der Trump-Ära ist klar: Washington verfolgt zunehmend eine Politik, die vorrangig eigene Interessen bedient, während Europa sicherheitspolitisch oft sich selbst überlassen bleibt. In dieser sich wandelnden Weltordnung kann Deutschland es sich nicht leisten, wichtige Partner aus ideologischen Gründen auf Distanz zu halten – und Türkiye ist einer dieser zentralen Akteure.

Türkiye hat sich als unverzichtbarer Faktor im Nahen Osten und als stabilisierende Kraft in der europäischen Sicherheitsarchitektur etabliert. Während Deutschland lange Zeit eine zurückhaltende Haltung eingenommen hat, hat Türkiye seine Position in internationalen Konflikten gefestigt. Doch anstatt diese Dynamik als Bedrohung zu sehen, sollte Deutschland sie als Chance begreifen. Eine stärkere Zusammenarbeit mit Türkiye würde nicht nur wirtschaftliche Vorteile bringen, sondern auch eine stabilere Migrationspolitik ermöglichen und Europas Sicherheit nachhaltig stärken.

Friedrich Merz setzt derzeit auf eine restriktive Migrationspolitik mit verstärkter Kontrolle der EU-Außengrenzen und strengeren Asylverfahren. Gleichzeitig erwartet er, dass Türkiye weiterhin die Hauptverantwortung für die Steuerung der Migration übernimmt. Doch diese einseitige Erwartung ist weder realistisch noch nachhaltig. Ohne eine faire und ausgewogene Partnerschaft kann eine langfristige Zusammenarbeit nicht funktionieren.

Deutschland muss daher einen Kurswechsel einleiten und eine Türkiye-Politik entwickeln, die über ideologische Differenzen hinausgeht. Eine Modernisierung der EU-Türkiye-Zollunion wäre ein wichtiger Schritt, um die wirtschaftlichen Beziehungen zu stärken und neue Investitionsmöglichkeiten zu schaffen. Gleichzeitig müsste die deutsche Visapolitik reformiert werden, um den Austausch zwischen beiden Ländern zu erleichtern. Auch in der sicherheits- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit, insbesondere im Rahmen der NATO, ist eine engere Kooperation notwendig, um gemeinsame Interessen zu wahren und Europas Stabilität zu sichern.

Darüber hinaus sollte Deutschland die EU-Beitrittsverhandlungen mit Türkiye nicht länger auf unbestimmte Zeit blockieren, sondern konstruktiv weiterführen. Eine vollständige Integration mag derzeit unrealistisch erscheinen, doch ein offener Dialog und klare Perspektiven würden die Beziehungen auf eine stabile Grundlage stellen. Ein Festhalten an ideologisch motivierten Blockaden wäre nicht nur wirtschaftlich kurzsichtig, sondern auch außenpolitisch riskant. Europa kann es sich nicht leisten, Türkiye weiterhin als bloßen Pufferstaat in der Migrationsfrage zu betrachten. Vielmehr sollte das Land als das anerkannt werden, was es ist: ein unverzichtbarer Partner für Europas Sicherheit, Wirtschaft und Stabilität.

Zukunft der deutsch-türkischen Beziehungen

Die neue Bundesregierung steht vor einer entscheidenden Weichenstellung: Setzt sie auf eine pragmatische, strategische Außenpolitik oder bleibt sie in ideologischen Mustern gefangen? Türkiye ist ein Schlüsselpartner für Europa – sei es in der Migrationspolitik, in der wirtschaftlichen Kooperation oder in der Sicherheitspolitik.

Friedrich Merz hat nun die Gelegenheit, ein neues Kapitel in den deutsch-türkischen Beziehungen aufzuschlagen. Eine Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und des offenen Dialogs wäre nicht nur im Interesse Deutschlands, sondern auch ein Gewinn für die europäische Stabilität.

Es ist an der Zeit, dass Deutschland seine diplomatische Strategie überdenkt und sich auf eine Welt einstellt, in der Pragmatismus mehr zählt als Ideologie. Türkiye kann und sollte dabei eine entscheidende Rolle spielen – doch ob Friedrich Merz diese Notwendigkeit erkennt, bleibt abzuwarten.


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