Der Massenmord geschah ganze acht Jahre vor dem berüchtigten Christchurch-Attentat in Neuseeland, das die Weltgemeinschaft dazu veranlasste, den 15. März zum Tag des Kampfes gegen Islamophobie der Vereinten Nationen zu deklarieren. Am 22. Juli 2011 kamen ganze 77 Menschen im Zuge des geplanten Anschlags in Norwegen um Leben. Die Ideologie ist nicht neu und lebt weiter.
2011 führte Anders Behring Breivik, der zwischenzeitlich zwei Mal seinen Namen geändert hat, zwei Anschläge durch. Einmal einen Anschlag auf ein Regierungsgebäude in Oslo und einmal auf der Insel Utøya. Insgesamt tötete er 77 Menschen, 69 davon auf dem Jugendlager der regierenden sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Breivik bekannte sich zu dem Verbrechen und breitete seine ideologische Motivation in einem 1500-seitigen mit dem Titel „2083: A European Declaration of Independence“ aus.
Das Manifest
Das Manifest, das Breivik an mehr als eintausend Email-Adressen geschickt hatte, war in erster Linie eine Ansammlung von Texten führender islamophober Autoren, mitunter Namen, die auch heute noch aktiv sind. Darunter fallen der bekannte Untergrund-Blogger Fjordman, der Gründer von Jihad Watch und Stop Islamization of America, Robert Spencer, die Autorin der Verschwörungserzählung eines „Eurabien“, Gisèle Littman (Bat Ye'or), der niederländische Politiker Geert Wilders, wie auch Personen aus dem journalistischen Mainstream wie Henryk M. Broder.
In dem Manifest zeichnete Breivik eine Verschwörung von Kulturmarxisten, Multikulturalisten, kapitalistischen Globalisten und Muslimen gegen das christliche Abendland. Demnach würden politische und gesellschaftliche Eliten mit den Muslimen zusammenarbeiten, um die christlich-europäische Bevölkerung mit einer muslimischen zu ersetzen. Breivik bezieht sich auf die Schlacht am Kahlenberg von 1683 und konstruiert mit dem Titel des Manifests 2083 einen 400-jährigen Kampf gegen eine sogenannte islamische Bedrohung.
Historische Vorgänger
Derartige Verschwörungen waren kein Novum. In Norwegen, wo Breivik herstammt, zauberte der damalige Vorsitzende der rechten Fortschrittspartei (Fremskrittspartiet), Carl I. Hagen, 1987 den sogenannten „Mustafa-Brief“ heraus, in welchem ein Mann namens Mustafa angeblich einen Brief an Hagen adressierte, wo er Letzterem attestierte, dass „der Islam Norwegen erobern“ werde, mitunter aufgrund einer höheren Geburtenzahl unter zugewanderten Muslimen. Der Brief, der bald als Erfindung entlarvt wurde, war eines der ersten Beispiele der Verbreitung islamophober Verschwörungstheorien, der es mithilfe rechter Politik auf eine bundesweite Ebene schaffte.
In den Jahren danach wurden derartige krude Verschwörungstheorien immer wieder neu artikuliert, mit angeblichen Beweisen untermauert und in elitären Kreisen zirkuliert. Schlussendlich wurden sie zu Bestsellern, wie etwa Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab aus dem Jahr 2010 zeigt. Die These, wonach die eingeborene Bevölkerung mit schrumpfendem Nachwuchs, von einer zugewanderten Bevölkerung ersetzt werden solle und insbesondere der kulturell-religiöse Aspekt, wonach eine sogenannte Islamisierung damit einhergehen würde, ist heute mehr verbreitet als 2011.
Von rechts bis links
Dass diese Verschwörungstheorien besonderen Anklang in der Neuen Rechte finden würde, ist naheliegend. Von der Vorstellung der Umvolkung aus den 1990er Jahren bis hin zur Verschwörung des Großen Austauschs ist die Idee des Ersatzes einer weiß-christlichen Bevölkerung durch nicht-weiße Bevölkerungsgruppen zentral. Mit der Politisierung des Islams durch rechte politische Akteure nehmen Muslime darin eine zentrale Stellung ein, wenn auch ihr Anteil nur verschwindend klein sein mag.
In rechten Kreisen verlaufen die möglichen Antworten darauf von einem fantasierten Genozid bis hin zu Überlegungen zu legalisierten Ausbürgerungen von Menschen mit muslimischem Hintergrund. Ein Beispiel für ersteres sind die Aussagen von rechten Akteuren mit AfD-Bezug zu einem Srebrenica 2.0 in Deutschland. Ein Beispiel für zweiteres ist das exklusive Treffen von Rechten zu Plänen der legalen Remigration, deren Nährboden ermöglicht werden solle, indem das Leben in Deutschland für Minderheiten unattraktiv gemacht werden solle.
Dänemark zeigt unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung vor, wie die Verleihung von Staatsbürgerschaft an bestimmte kulturelle Vorstellungen gebunden werden. 2019 wurde etwa ein Gesetz eingeführt, das den Handschlag bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft notwendig macht, eine Maßnahme, welche die Exklusion konservativer religiöser Handlungen markierte.
Nachahmer
Breiviks Attentat, das offene, junge Menschen traf, die als Ermöglicher der Einwanderung von Muslimen in Norwegen angegriffen wurden, diente auch Nachahmungstätern. 2016 verübte ein weißer Supremat am 22. Juli einen Anschlag und beteuerte, Breivik zu verehren. 2019 kam es zu dem eingangs erwähnten Attentat im neuseeländischen Christchurch, das 51 Menschenleben in zwei Moscheen kostete. Im Jahr 2000 sollte ein Attentäter in Hanau, Deutschland, ebenso wie Breivik ein Manifest, in welchem er andere „Rassen und Kulturen“ insbesondere „den Islam“ als destruktiv verachtete, im Rahmen seines Attantats veröffentlichen. 2022 tötete ein weißer Supremat zehn Afroamerikaner im US-Bundesstaat New York. Seine Waffe nahm Bezug auf das von Breivik thematisierte Jahr 2083 und enthielt das Akronym SYGAOWN, welches im Englischen für Stopp den Genozid gegen unsere weißen Nationen steht.
Modifizierte Versionen
Mit dem Erstarken rechter Parteien in Europa haben diese Verschwörungstheorien der Verdrängung einheimischer Bevölkerungen entsprechende politische Maßnahmen gefunden. Remigration ist zu einem neuen politischen Schlagwort einer erstarkenden Rechten in Europa geworden und wird von zahlreichen politischen Parteien vertreten.
In einer intellektualisierten Version tritt diese Verschwörung in einer weniger kruden Form auf. Wenn etwa Maßnahmen gegen den sogenannten politischen Islam geschmiedet werden, wird vorgegeben, gegen eine nur kleine Anzahl extremer Muslime vorzugehen. Der rhetorische Trick führt aber dazu, breitere Teile der muslimischen Bevölkerung zu treffen, welche das Leben unattraktiver gestalten, was wiederum den Effekt der Auswanderung nach sich ziehen könne. Es ist genau jene Idee, die bei einem Potsdamer Treffen von einem rechten Aktivisten präsentiert wurde.
Wenn gegen das Unheil dieser Verschwörungen vertreten hatte, vorgegangen werden solle, dann gilt es, all diese Auswüchse in den Blick zu nehmen und nicht nur auf die menschenverachtende Handlung des Breivik.