Wer den von wenigen Wochen abgeschlossenen Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD im einzelnen studiert, stößt in den Abschnitten, die Türkiye thematisieren, auf Widersprüche. Einerseits wird die strategische Bedeutung von Türkiye an mehreren Stellen des Koalitionsvertrages erwähnt, andererseits folgt das Dokument einer für die deutsche Außenpolitik bezeichnenden Neigung zur Besetzung des höheren moralischen Geländes, indem es bedauernd bemerkt, dass sich Türkiye von der Werteordnung der EU zunehmend weiter entferne. Der Koalitionsvertrag hätte den Startpunkt für ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Deutschland und Türkiye darstellen können.
Die geopolitischen Realitäten haben sich grundlegend verändert. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat mit starker Hand den Staatsumbau seines Landes vollzogen und die geopolitischen Turbulenzen der Gegenwart zielstrebig dafür genutzt, den politischen Handlungsrahmen der Regionalmacht von Türkiye auszubauen. Die türkischen Streitkräfte halten Russland von einer Expansion an der Südflanke der Nordatlantischen Allianz ab. Sowohl die Rolle von Türkiye in der Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan als auch die Zurückdrängen des iranischen Einflusses im Nahen Osten und der entscheidende Schlag durch die jüngsten Entwicklungen in Syrien und der Flucht des Assad-Clans, die sich unter anderem in einer ungewissen Zukunft der russischen Stützpunkte in Syrien niederschlagen, stärken die strategische Position von Türkiye. Das diplomatische Gewicht von Türkiye ist durch die jüngst in Istanbul stattgefundenen Sondierungsgespräche zwischen einer russischen und ukrainischen Delegation gestärkt worden. Systematisch hat sich Präsident Erdoğan seit Beginn des militärischen Konflikts zwischen Russland und der Ukraine als Verhandler empfohlen.
Türkiye zwischen den Welten – Brücke, Machtzentrum, Vermittler
Von grundlegender Bedeutung bleibt weiterhin übergreifend das gewachsene Selbstverständnis von Türkiye, der sich als Brücke zwischen Europa und Asien versteht, darin auch ihren strategischen Wert als Mitglied der Nordatlantischen Allianz seit 1952 definiert, sich in wirtschaftlicher und technologischer Entwicklung als ganz dem Westen zugehörig begreift, zugleich aber durch den Islam mit den Staaten Nordafrikas und des Vorderen Orients und über die Arabische Liga mit dem Iran verbunden ist.
Der Zerfall der Sowjetunion hat nicht nur die geopolitische Bedeutung von Türkiye in Zentralasien gestärkt, sondern auch die kulturelle und religiöse Verbundenheit des Landes mit den zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, insbesondere Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisien und Turkmenistan, hervorgehoben. Im gleichen Zeitraum haben sich die seit dem Assoziierungsabkommen des Landes mit den Europäischen Gemeinschaften im Jahr 1963 mit hohen Erwartungen verbundenen Beziehungen zu den EU-Mitgliedstaaten deutlich abgekühlt.
In dieser geopolitischen Machtkonstellation ist die heutige Bestimmung von Türkiye als islamischer Staat in seinem außenpolitischen Profil und seinen Ambitionen zu betrachten. Türkiye hat von der geopolitischen Verschiebung nach dem Zerfall der Sowjetunion profitieren und zu einer neuen Lage zwischen Ost und West – an der Schnittstelle zwischen Eurasien, Nahen Osten und Nordafrika – finden können. In den letzten beiden Jahrzehnten hat Türkiye konsequent die sich daraus ergebenden Möglichkeiten im Rahmen einer gestaltenden Außen- und Sicherheitspolitik genutzt und neue Schwerpunkte im zentralasiatischen-arabischen Großraum erschlossen.
Ankara als strategischer Pfeiler der transatlantischen Sicherheit
Die in Jahrzehnten bewährte Einbindung von Türkiye in die Gremienarbeit der Nordatlantischen Allianz, in die fortlaufenden Konsultationen, in die tägliche Zusammenarbeit in integrierten Stäben und Verbänden haben ein Geflecht ergeben, in dem Türkiye mit ihren europäischen Partnern zwar nicht immer reibungslos, aber grundsätzlich vertrauensvoll zusammenarbeiten kann. Insbesondere das Syrien-Problem ist in der Vergangenheit im Nato-Rat immer wieder Gegenstand von vertraulichen Konsultationen gewesen. Die Zusammenarbeit zwischen der Nato und der Europäischen Union ist dabei mit Blick auf größere Effizienz und Arbeitsteilung von grundsätzlicher Bedeutung für die Fortentwicklung beider Organisationen. Dies betrifft insbesondere die gegenseitige Abstimmung der Streitkräfteplanungsprozesse und die damit verbundene Ausrichtung der Streitkräftefähigkeiten.
Eine zunehmend globalisierte und global tätige Nordatlantische Allianz, die mit ihren bevorstehenden strategischen und operationellen Anpassungen sich weiter von ihren einstigen Kernaufgaben und ihrem definierten Vertragsgebiet entfernt, die anhaltenden Anfechtungen der weltpolitischen Rolle der Vereinigten Staaten, der damit verbundene amerikanische Gewichtsverlust und die auch in der Zukunft auf absehbare Zeit anhaltenden europäisch-amerikanischen Spannungen werden begünstigen, dass Türkiye den eingeschlagenen Kurs fortsetzt, sich seiner strategisch unersetzbaren Bedeutung bewusst bleibt und das Wissen um seine Trümpfe zielbewusst zum eigenen Vorteil einsetzt.
Deutschland und Türkiye: Zeit für einen realistischen Neuanfang
Deutschland tut sich mit der Anerkennung der neuen außenpolitischen Gegebenheiten - der Koalitionsvertrag zeigt es - schwer. In der Debatte um eine Mitgliedschaft der Türkiye in der Europäischen Union seit den 1990er Jahren waren die politischen Parteien und Gruppierungen gespalten. Viele Verwerfungen, insbesondere auch Enttäuschungen, hätten bei einer realistischen Position vermieden werden können. Die Schlachten der Vergangenheit sollten heute hinter uns liegen. Gerade mit Blick auf das Verhältnis zu Türkiye haben sich in der Vergangenheit häufig Inkonsistenzen und der Mangel an einer strategischen Orientierung sowohl für einzelne europäische Mitgliedstaaten als auch für die Europäische Union insgesamt als fatal erwiesen.
Der Rang des Verhältnisses zu Türkiye wurde dabei nicht immer mit der gebührenden politischen Priorität betrachtet. Die gegenwärtige Entwicklung von Türkiye wirft zudem die doppelte Frage auf, inwieweit die in den letzten Jahren vollzogenen Entwicklungen auch aus Enttäuschung über nicht ergriffene Optionen erfolgt sind und ob es angezeigt erscheint, dass die Europäische Union ihre Strategie gegenüber Türkiye grundlegend überarbeiten muss. Wie zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte sind heute die Beziehungen zwischen Türkiye und dem Westen strapaziert und auf vielfältige Weise gefordert.
Türkiye spielt als Regionalmacht in der neuen weltpolitischen Konstellation eine noch größere Rolle. Die deutsche Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie sich auf allen Ebenen um eine Intensivierung des Verhältnisses zu Türkiye bemühen würde, um in einen echten Dialog mit dem aufsteigenden Land einzutreten. Die künftige geostrategische und allianzpolitische Orientierung von Türkiye wird deshalb ganz wesentlich die Entwicklungen an Europas Peripherie und im Nahen Osten bestimmen: sie zählt zu den Kernfragen der europäischen Politik. Mit der weiter bevorstehenden Schwerpunktverlagerung der Europäischen Union von ihrer östlichen zu ihrer südlichen Grenze – eine Folge der weltpolitischen Machtverschiebungen und der zunehmenden strategischen Unsicherheiten, die insbesondere mit der Migrationsbewegung und mit der Entwicklung des afrikanischen Kontinents verbundenen sind – wird die geopolitische Bedeutung von Türkiye weiter unterstrichen.
Zwischen Energie, Migration und Geopolitik
Die aktuellen politischen Krisen und Auseinandersetzungen bestätigen diese Analyse: der gegenwärtige Streit um Seegebiete im Mittelmeer zwischen Türkiye einerseits sowie Zypern und Griechenland andererseits, bei dem es auch um Öl- und Gasvorräte und die Ausbeutung dieser Ressourcen geht, das zwischen Libyen und Türkiye geschlossene Abkommen über ihre Seegrenze und die verschiedenen politischen Streitigkeiten, die etwa mit dem Regelungserfordernis der Flüchtlingsfrage verknüpft sind, verdeutlichen, dass sich Türkiye immer wieder im Zentrum von politischen Auseinandersetzungen befindet.
Die gestiegene geopolitische Bedeutung von Türkiye insbesondere erfordert eine Klarheit über die neuen Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Das Ende des Ukraine-Krieges wird die geopolitische Rolle Europas, auch die Mechanismen der Zusammenarbeit, der inneren Organisation und die Strategien der Erweiterungspolitik auf eine neue Grundlage stellen. Die Europäische Union muss dabei insgesamt den längsten Weg zurücklegen, und sie müsste begreifen, dass Türkiye in der Allianzpolitik der Zukunft für die EU, aber auch mit Blick auf die Partnerschaftspolitik der NATO und die Verteidigung der Südflanke von zentraler Bedeutung ist. Wenn in dem jüngsten Weißbuch der EU zur Wiederbewaffnung Türkiye - anders als Kanada, Norwegen und Großbritannien - noch nicht auf der Liste der potentiellen Partner steht, so zeigt dies, dass die EU noch einen langen Weg zurücklegen und zu einer neuen Haltung gegenüber Türkiye finden muss.