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Stille Mächte, laute Krisen: Wer füllt das Vakuum?
Israel und Iran drohen sich offen, in Gaza eskaliert die humanitäre Katastrophe – die Welt schaut weg. Wer spricht noch die Sprache der Diplomatie?
Stille Mächte, laute Krisen: Wer füllt das Vakuum?
Baz Ratner/AP/dpa
29. Juni 2025

Der Nahe Osten ist erneut in eine Phase der Instabilität eingetreten. Die Region, die seit Jahren von Kriegen, wirtschaftlicher Not und humanitären Tragödien geprägt ist, steuert in den letzten Wochen auf einen neuen Wendepunkt zu. In einer Zeit, in der sich die gegenseitigen Angriffe und Drohungen zwischen Israel und dem Iran häufen, hat die jüngste US-Operation gegen iranische Nuklearanlagen die Spannungen weiter verschärft. Diese Entwicklung stellt nicht nur eine lokale Auseinandersetzung dar, sondern birgt das Potenzial für eine regionale Eskalation. Gleichzeitig verschärft sich die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen, während die diplomatischen Reaktionen der internationalen Gemeinschaft entweder unzureichend oder verspätet bleiben.

Globale Institutionen wie die Vereinten Nationen sind handlungsunfähig. Die Europäische Union tut sich schwer, eine gemeinsame Sprache zu finden. Die Vereinigten Staaten unter Präsident Trump greifen zwar gelegentlich ein, doch seine unberechenbaren Äußerungen und die sogenannte Politik der neuen Generation tragen eher zur Verschärfung der Krisen bei als zu deren Lösung. In dieser Lage wird eine Frage immer dringlicher: Wer kann in diesem gefährlichen Umfeld eine konstruktive Rolle übernehmen, wer kann vermitteln, wer kann der Diplomatie wieder Raum verschaffen? Und vor allem, wer kann ein gemeinsamer Vertrauensanker für Staaten mit unterschiedlichen Positionen sein?

Regionale Verantwortung als Antwort auf globalen Rückzug

In der Weltpolitik der letzten Jahre lässt sich eine klare Entwicklung beobachten: Während sich globale Mächte zunehmend zurückziehen, treten regionale Akteure stärker in den Vordergrund. Saudi-Arabien bemüht sich mit wirtschaftlichen Reformen um neue Sichtbarkeit. Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate bauen ihre diplomatischen Netzwerke aus. Doch keines dieser Länder vereint geopolitische Lage, institutionelle Stabilität, militärische Kapazität und diplomatische Erfahrung in dem Maße wie Türkiye.

In den letzten zehn Jahren hat Türkiye eine aktive Rolle in verschiedensten Krisen übernommen und damit der regionalen Diplomatie ihren Stempel aufgedrückt. Im Syrien-Konflikt beschränkte sie sich nicht auf Sicherheitsmaßnahmen, sondern engagierte sich auch mit humanitärer Hilfe und Infrastrukturprojekten. Im Ukraine-Krieg vermittelte Türkiye erfolgreich zwischen Moskau und Kiew und ermöglichte das Getreideabkommen. In der Gaza-Frage wiederum gehört Türkiye seit Beginn der Auseinandersetzungen zu den wenigen Ländern, die sich offen äußerten und das Völkerrecht verteidigten. Diese Haltung ist nicht nur strategisch, sondern Ausdruck einer ethischen und diplomatischen Entschlossenheit.

Auch angesichts der jüngsten Spannungen zwischen Israel und dem Iran blieb Türkiye ihrer grundsätzlichen Linie treu. Präsident Recep Tayyip Erdoğan sprach sich klar für eine Lösung im Rahmen des internationalen Rechts aus. Mit besonderem Nachdruck verwies er auf die dramatische humanitäre Lage in Gaza und forderte die Reaktivierung internationaler Organisationen.

Strategische Diplomatie: Die Haltung der Türkiye

Beim letzten NATO-Gipfel in Den Haag zeigte Türkiye erneut ihr vielschichtiges außenpolitisches Profil. Präsident Erdoğan sprach in seinem Treffen mit US-Präsident Trump nicht nur regionale Konflikte an, sondern thematisierte auch bilaterale Beziehungen in den Bereichen Energie, Verteidigung und Investitionen. Das erklärte Ziel eines Handelsvolumens von 100 Milliarden US-Dollar zwischen Türkiye und den Vereinigten Staaten unterstreicht das wirtschaftliche Gewicht dieser Partnerschaft. Noch bedeutender aber ist die Tatsache, dass Türkiye nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern auch die kollektive Sicherheit der NATO weiterhin aktiv unterstützt.

Die Äußerungen Erdoğans während des Gipfels zeigen, dass Türkiye eine sicherheitspolitische Perspektive vertritt, die über die eigenen Landesgrenzen hinausgeht. Die Forderung nach einer gerechten Lösung für Gaza, einem nachhaltigen Dialog mit dem Iran und dem Ende des Krieges in der Ukraine machen deutlich, dass Türkiye nicht bloß Zuschauerin globaler Krisen ist, sondern eine gestaltende Kraft mit politischer Initiative.

Trotz temporärer Spannungen mit westlichen Staaten hat Türkiye den Dialog nie abgebrochen. Während die NATO-Mitgliedschaft fortbesteht, hat Ankara gleichzeitig strategische Beziehungen zu China, Afrika, dem Nahen Osten und Lateinamerika aufgebaut. Diese diplomatische Flexibilität und ausgewogene Außenpolitik haben Türkiye zu einem globalen Akteur gemacht, der über seine Region hinaus Einfluss ausübt.

Ein neuer Ordnungsrahmen? Der Schlüssel liegt in Ankara

Wir leben in einer Zeit, in der alte Machtverhältnisse bröckeln und neue Allianzen entstehen. Machtvakuum bringt Unsicherheit, diplomatisches Schweigen erzeugt neue Konflikte. In diesem Umbruch sticht Türkiye als ein Staat hervor, der sowohl schnell auf Krisen reagieren als auch langfristige Stabilität anstreben kann.

Türkiye nur als geografische Brücke zwischen Ost und West zu sehen, wird ihrer tatsächlichen Rolle nicht gerecht. Ankara ist heute ein unverzichtbarer Akteur bei zentralen globalen Herausforderungen wie Frieden in Gaza, Wiederaufbau in Syrien, Deeskalation zwischen Israel und dem Iran und Lösungsperspektiven in der Ukraine.

Jetzt ist klar: Ein dauerhafter Frieden im Nahen Osten, Stabilität in Europa und eine neue globale Ordnung sind ohne Türkiye kaum denkbar.

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