Die Welt steht an einem geopolitischen Wendepunkt. Der Wandel, den wir erleben, ist nicht nur technologischer Natur – er betrifft ebenso tiefgreifend die politischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Strukturen der internationalen Ordnung. Immer deutlicher tritt zutage, dass das bestehende westlich dominierte System seine Integrationskraft und Legitimität verliert. Die Ordnung, die nach dem Kalten Krieg von den USA als unipolare Struktur geprägt wurde, wirkt im Angesicht multipler globaler Krisen nicht nur überfordert, sondern zunehmend dysfunktional.
Die letzten Jahre haben gezeigt, wie fragil die auf dem westlichen Selbstverständnis beruhende internationale Architektur geworden ist. Donald Trumps Präsidentschaften markierten einen Paradigmenwechsel innerhalb der westlichen Führungsmacht selbst. Seine wiederholten Forderungen an Europa, mehr Verantwortung im Verteidigungsbereich zu übernehmen, sowie seine nationalistisch geprägte Außenpolitik führten zu einer Erosion des transatlantischen Vertrauens. Die amerikanische Zurückhaltung im Ukraine-Krieg und die einseitige Interessenspolitik in globalen Konflikten verstärken das Gefühl der Unsicherheit – nicht nur in Europa, sondern weltweit.
Zugleich versagen zentrale Institutionen wie die UNO oder die NATO in ihrer Rolle als Garant internationaler Stabilität. Der Sicherheitsrat blockiert sich angesichts geopolitischer Rivalitäten selbst, das Völkerrecht wird selektiv ausgelegt und angewendet. Gerade in humanitären Katastrophen – wie etwa in Gaza – zeigt sich das dramatische Versagen globaler Governance-Strukturen. Die moralische Autorität des Westens gerät zunehmend ins Wanken.
Multipolare Zukunft als globale Notwendigkeit
In dieser Atmosphäre der Unsicherheit gewinnen alternative internationale Plattformen an Sichtbarkeit und Bedeutung. BRICS, ursprünglich als wirtschaftliches Gegengewicht zum Westen konzipiert, entwickelt sich zunehmend zu einem politischen Akteur mit globalem Gestaltungsanspruch. Der jüngste BRICS-Gipfel, der am 6. und 7. Juli in Rio de Janeiro unter brasilianischer Präsidentschaft stattfand, war Ausdruck dieses Wandels. Die Agenda reichte dabei weit über ökonomische Themen hinaus und spiegelte den wachsenden politischen Gestaltungsanspruch der Gruppe wider.
Das in Rio verabschiedete Abschlusskommuniqué forderte einen sofortigen Waffenstillstand zwischen Israel und Palästina, betonte die territoriale Integrität Syriens und verurteilte militärische Angriffe auf den Iran als völkerrechtswidrig. Damit machte BRICS deutlich, dass es nicht nur wirtschaftliche Interessen verfolgt, sondern auch eine neue normative Ordnung einfordert, die auf Souveränität, Gleichheit und Dialog basiert.
Inmitten dieses geopolitischen Aufbruchs trat Türkiye beim BRICS-Gipfel selbstbewusst auf. Außenminister Hakan Fidan positionierte sein Land als konstruktiven Akteur in einer sich verändernden Weltordnung. Seine Rede war geprägt von einer fundamentalen Kritik an den Versäumnissen internationaler Institutionen. Besonders mit Blick auf den Gazakrieg sprach Fidan von einem Kollaps der globalen Governance. Türkiye, so seine Botschaft, wolle sich nicht mit Beobachterstatus zufriedengeben, sondern aktiv an Lösungen mitwirken durch diplomatische Vermittlung, humanitäre Hilfe und eine wertegeleitete Außenpolitik.
Fidan betonte ausdrücklich die Rolle seines Landes als stabilisierender Faktor in regionalen Konflikten, sei es in Syrien, im Iran oder im Sudan. Türkiye sieht sich als Brückenbauer, der nicht nur zwischen politischen Blöcken vermittelt, sondern auch zwischen Normen, Kulturen und Erwartungen. Diese Haltung spiegelt einen strategischen Anspruch wider, der über die bloße Geopolitik hinausreicht.
Multipolarität als Realität – Türkiye als Schlüsselakteur
Längst ist klar: Die Welt wird nicht länger von einer einzigen Macht dominiert. Die Zeit der unipolaren Ordnung unter US-Hegemonie ist vorbei. Die Vielzahl ungelöster Konflikte – vom Nahen Osten über Afrika bis nach Osteuropa – zeigt, dass globale Herausforderungen nicht mehr mit den Instrumenten der Vergangenheit bewältigt werden können. Die gegenwärtige Ordnung krankt an Legitimitätsverlust, politischen Blockaden und einem Mangel an inklusiver Repräsentation.
Gerade vor diesem Hintergrund ist die multipolare Weltordnung nicht nur eine Option, sondern eine Notwendigkeit. Sie verspricht eine gerechtere Verteilung von Einfluss und Verantwortung. Türkiye kann in diesem Kontext eine Schlüsselrolle einnehmen – nicht nur als Mittler, sondern auch als strategischer Mitgestalter. Ihr wachsender diplomatischer Einfluss, ihre militärisch-technologischen Entwicklungen, ihre humanitären Fähigkeiten und ihre Fähigkeit zur Kooperation mit unterschiedlichsten Partnern machen sie zu einem relevanten Akteur auf der Weltbühne.
Die Öffnung gegenüber Plattformen wie BRICS erlaubt Türkiye, ihre Außenbeziehungen über die traditionellen West-Ost-Grenzen hinaus zu diversifizieren. Diese strategische Tiefe ermöglicht es dem Land, sowohl mit westlichen Institutionen als auch mit neuen Allianzen konstruktiv zu arbeiten – ohne sich einseitig zu binden. In dieser neuen Ordnung ist Türkiye nicht Objekt, sondern Subjekt des Wandels.
Die multipolare Realität ist für Türkiye keine Bedrohung, sondern eine historische Gelegenheit: eine Chance, eigene Werte und Interessen mit globaler Verantwortung zu verbinden. Der Ruf nach Staaten, die Verantwortung übernehmen, Brücken bauen und normative Impulse setzen, wird lauter – Türkiye hat das Potenzial, diesem Ruf zu folgen.