Der Besuch von Bundeskanzler Friedrich Merz in Washington wird in Berlin als neues Kapitel in den transatlantischen Beziehungen gefeiert. Doch hinter der diplomatischen Inszenierung verbirgt sich eine ernüchternde Realität: Deutschland ist sowohl in sicherheitspolitischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht stark von den Vereinigten Staaten abhängig.
Statt einen mutigen Schritt nach vorn zu markieren, könnte der Gipfel offenlegen, wie unvorbereitet Berlin auf die sich wandelnde Weltordnung tatsächlich ist.
Während Berlin von einer Neuausrichtung der Außenpolitik spricht, bleibt es in der Praxis reaktiv statt gestaltend. Die jüngsten Differenzen beim NATO-Burden-Sharing, wachsende Handelskonflikte und globale Krisen zeigen deutlich, wie sehr Europa weiterhin auf amerikanische Führung angewiesen ist. Merz’ Reise ist weniger Ausdruck gleichberechtigter Partnerschaft als vielmehr ein Versuch, Washington zu besänftigen.
Der Gipfel folgt auf Gespräche zwischen Bundesaußenminister Johann Wadephul und US-Außenminister Marco Rubio, in denen Deutschland die Bereitschaft signalisierte, seine Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Doch diese Zusagen bleiben bislang weitgehend symbolisch – es fehlt an Umsetzung und strategischer Kohärenz.
Unsichere Sicherheitslage
Merz’ Aufenthalt im Blair House mag diplomatisch bedeutsam erscheinen, doch er unterstreicht vor allem, wie stark Deutschlands außenpolitische Glaubwürdigkeit von der Zustimmung der USA abhängt. Seine frühere Rolle bei BlackRock verstärkt zusätzlich das Bild eines Landes, das politisch wie wirtschaftlich tief im transatlantischen Gefüge verankert ist.
Uli Brückner, Professor am Stanford Center in Berlin, betont im Gespräch mit TRT Deutsch, dass Merz’ Weltbild aus einer Ära stamme, in der bestimmte transatlantische Selbstverständlichkeiten noch galten – Annahmen, die heute nicht mehr tragfähig seien: „Er hat 70 Jahre in einer Welt gelebt, in der gewisse transatlantische Glaubenssätze als garantiert galten – das ist heute nicht mehr so.“ Selbst wenn Merz sich kognitiv und emotional auf die neue geopolitische Realität einstellt, bezweifelt Brückner, dass er die richtigen Schlüsse zieht und politisch umsetzen kann.
Zudem hänge eine Normalisierung der Beziehungen nicht allein von Berlin ab – unter Trump seien Unberechenbarkeit und gezielte Destabilisierung Teil der Strategie: „Trump sucht kurzfristige Vorteile durch Konfrontation und Spaltung, nicht durch langfristiges Vertrauen.“
Ulrich Schlie, Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn, sieht im Gipfel dennoch eine Chance – allerdings nur, wenn mehr als symbolische Gesten folgen: „Ich würde mir wünschen, dass der Besuch von Bundeskanzler Friedrich Merz mehr dazu beiträgt, dass Deutschlands Gewicht in der atlantischen Allianz steigt. Die europäische Stimme wird in Washington nur dann glaubwürdig vernommen werden, wenn die Europäische Union sicherheitspolitisch mehr auf den Tisch legt.“
Europas Verteidigungslücke
Der Ukraine-Krieg dürfte die Agenda des Gipfels dominieren. Deutschlands Erhöhung der Verteidigungsausgaben wird zwar als Beitrag zur NATO dargestellt, doch faktisch versucht Berlin lediglich aufzuholen. Das Militär bleibt unterentwickelt, politische Führung zögerlich. Trump dürfte die weitere Unterstützung für die Ukraine infrage stellen – während Merz kaum eine strategische Antwort bietet.
Reinhard Heinisch, Professor an der Universität Salzburg und ehemaliger Berater des US-Außenministeriums sowie des österreichischen Verteidigungsministeriums, sagte gegenüber TRT Deutsch, selbst wenn Europa strategische Autonomie anstrebe, brauche es bei den derzeitigen Ausgaben mindestens 15 Jahre, um grundlegende Verteidigungsfähigkeit aufzubauen: „Europa fehlt es an allem – von Wehrbereitschaft und öffentlichem Bewusstsein bis hin zu Waffen, Munition und Aufklärungssystemen.“ Technologisch liege der Kontinent zudem deutlich hinter den USA und China zurück. Für Heinisch sind Deutschlands jüngste Rüstungsanstrengungen „kein Durchbruch – nur das absolute Minimum, um nicht völlig abgehängt zu werden“.
Brückner verfolgt eine pragmatischere Linie: Europa müsse nicht vollständig unabhängig von den USA werden, um seine Abschreckungskraft zu erhöhen. „Schon kleine Schritte, die die Kosten eines russischen Angriffs erhöhen, können relevant sein.“
Doch echte Transformation stoße auf massiven Widerstand – von der öffentlichen Meinung über politische Prioritäten bis hin zum langsamen und ineffizienten Reformprozess der Bundeswehr. „Selbst wenn die politische Einigung auf strategische Autonomie besteht, heißt das nicht, dass sie auch erreicht wird.“
Schlie bringt es noch deutlicher auf den Punkt: „Europa braucht sicherheitspolitisch einen Quantensprung. Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass Amerika alle wesentlichen Sicherheitsfragen für Europa löst und die Garantien übernimmt.“
Deutschland vor einer Realität, auf die es nicht vorbereitet ist
Die jüngsten Drohnenangriffe auf russische Luftwaffenstützpunkte zeigen, wie unvorhersehbar der Ukraine-Krieg weiterhin ist. Deutschland hingegen wirkt zunehmend unvorbereitet auf eine Welt mit schwindenden US-Zusagen und wachsender globaler Instabilität.
Heinisch sieht kaum Raum für deutsche Einflussnahme: „Merz hat kein internationales Gewicht – weder Putin noch Trump nehmen ihn ernst. Deutschland wird am Ende vermutlich nur dem zustimmen, was andere aushandeln, und Truppen stellen.“
Trump wolle einen Deal, den er innenpolitisch verkaufen könne, doch Putin profitiere von der Fortsetzung des Krieges: „Russland hat bessere Verbündete, rückt langsam aber stetig vor und profitiert vom günstigeren Drohnenkrieg – das hilft Putin, die Unterstützung in der Bevölkerung zu sichern.“
Brückner bleibt überzeugt, dass dauerhafter Frieden nur diplomatisch erreichbar sei – „aber nur, wenn alle Seiten erkennen, dass ihre Interessen ohne Krieg besser gewahrt sind“. Dieser Moment könne plötzlich eintreten – etwa durch militärische Verschiebungen, Führungswechsel oder Druck von den USA oder China. „Aktuell aber gibt es keine Anzeichen dafür.“
Schlie unterstreicht, dass Deutschlands diplomatische Relevanz von seiner Rolle im transatlantischen Bündnis abhängt: „Die Vereinigten Staaten haben im Friedensprozess die Schlüsselrolle. Je mehr Deutschland in den transatlantischen Beziehungen an Gewicht gewinnt, desto größer kann auch sein diplomatischer Einfluss sein.“
Wendepunkt – oder verpasste Gelegenheit?
Statt einen Neuanfang zu markieren, könnte der Merz-Trump-Gipfel vor allem die Juniorrolle Deutschlands innerhalb des Bündnisses sichtbar machen. Während sich dauerhafte Kriegsrealitäten an Europas Grenze abzeichnen, braucht Berlin mehr als Symbolpolitik – es braucht Klarheit und Mut.
Heinisch stellt sogar infrage, ob Deutschland im Ernstfall auf Frankreichs nukleare Abschreckung zählen könnte: „Würde Paris wirklich wegen Berlin einen Atomkrieg mit Russland riskieren?“
Der Experte bezweifelt, dass Merz Trumps ablehnende Haltung gegenüber der EU ändern kann: „Trump will Deutschland als abschreckendes Beispiel – und anders als früher brauchen andere europäische Staaten Berlin nicht mehr als Fürsprecher.“
Ohne strategisches Umdenken droht Deutschland nicht nur die Bedeutungslosigkeit – sondern die schleichende Ausgrenzung aus dem Bündnis, von dem es am meisten abhängig ist.