Rund 2300 Kinder und Jugendliche erkranken in Deutschland jedes Jahr an Krebs. Für die Betroffenen, ihre Eltern und Geschwister ist das nicht nur ein Schock, die neue Situation wirft auch viele Fragen auf. Prof. Dr. Martin Schrappe weiß aus seiner täglichen Arbeit als Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel, was Ärzte und Sozialarbeiter tun können und worauf es bei der Behandlung insgesamt ankommt.
Im Interview mit TRT Deutsch berichtet der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) über die vielfältigen Unterstützungsangebote für Familien mit krebskranken Kindern und gibt einen Ausblick auf neue Therapieansätze.
TRT: Herr Dr. Schrappe, welche Krebsformen kommen bei Kindern typischerweise vor – und wie häufig?
Schrappe:Krebs bei Kindern ist etwas viel Selteneres als bei Erwachsenen – wir haben in Deutschland pro Jahr konstant rund 2300 Fälle bei den unter 18-Jährigen. Krebs bei Kindern ist grundsätzlich anders als bei Erwachsenen. Häufige Krebsformen bei Erwachsenen sind Brustkrebs, Prostatakrebs, Lungenkarzinom, Magen- oder Darmkrebs. Diese sehen wir bei Kindern nicht. Bei Kindern sehen wir wiederum Krebsformen, die man bei Erwachsenen so gut wie nie findet. Laien ist oft nicht bekannt, dass es hier große Unterschiede bei den Erkrankungen gibt.
Säuglinge haben mitunter „Neuroplastome“, kleine Tumore oder Schwellungen, die von allein verschwinden können und als Störung der embryonalen Entwicklung anzusehen sind. So etwas gibt es bei Erwachsenen praktisch nicht. Neuroplastome sind nicht bösartig, werden aber trotzdem feingeweblich untersucht, wenn man sie zufällig findet. Ein Magenkrebs bei Erwachsenen dagegen verschwindet nicht einfach so.
TRT: Gibt es eine Prävalenz bei den Altersstufen?
Schrappe: Das hängt von der Krebsart ab – ob Leukämie oder Krebs, und welches Gewebe betroffen ist. Eine generelle Aussage ist schwierig. Einige Krebsformen sind bei Säuglingen häufig, andere treten erst nach dem 10. oder 12. Lebensjahr auf.
Dabei ist auch nicht immer dieselbe Therapie angebracht. Bei einem Kind fanden wir einmal eine seltene Leukämie-Form, die zwar eine Behandlung, jedoch keine Chemotherapie erforderlich machte. Leukämie lässt sich mitunter auch unter Kontrolle bekommen, indem man die Blutbildung unterstützt, damit die Zellen ausreifen können. Mit anderen Wirkstoffen, Vitamin-A-Präparaten und ein wenig Arsen – einem sehr interessanten Wirkstoff aus der chinesischen Medizin – hatten wir bei dieser seltenen Leukämie-Form Erfolg.
Bei über 10-Jährigen verschwinden Krebsarten seltener von allein. Manchmal kann man die Erkrankung jedoch auch hier mit wenig Therapie unter Kontrolle bekommen.
TRT:Welche Krebsformen bei Kindern haben hohe, welche eher niedrige Heilungschancen?
Schrappe: Das hängt stark von der Ausbreitung der Krankheit ab. Eine Spontanheilung ist nur für eine kleine Minderzahl besonderer Formen von Krebserkrankungen relevant. Die allermeisten, d.h. etwa 98 Prozent, brauchen eine richtige Therapie. Diese kann aber völlig unterschiedlich aussehen: Umfasst ein Lymphknoten-Krebs z.B. nur einen einzigen Lymphknoten am Hals, braucht man nur sehr wenig und kurzzeitig Therapie, ohne große Neben- und Spätwirkungen. Ist jedoch der ganze Körper befallen, dauert die Therapie natürlich lang und ist entsprechend intensiv.
Auch die Krebsart spielt eine Rolle. Ein ausgebreiteter Lymphknoten-Krebs wächst zwar schnell und braucht eine intensivere Therapie als zum Beispiel Knochenkrebs, der oft bei Jugendlichen auftritt. Dieser wiederum wächst nicht schnell, ist jedoch hochgefährlich, und die Behandlung dauert deutlich länger und braucht andere Medikamente. Krebsarten bei Kindern sind also total unterschiedlich. Selbst als Experte muss man sich sehr sorgfältig auf die jeweilige Krebsart einstellen und nicht jedem dasselbe verordnen. Das ist wichtig.
TRT: Worauf sollten Eltern nach der Erstdiagnose und bei der Klinikauswahl achten?
Schrappe: Bei der Behandlung von Kindern mit Krebs hat es sich bewährt, nur Kliniken zu konsultieren, welche die entsprechende Expertise haben und die Kinder nach gut etablierten und aktuellen Behandlungsprotokollen therapieren können – und nicht etwa mit veralteten Protokollen, aus dem Lehrbuch oder gar mit Erwachsenen-Protokollen. Erst neulich nahmen wir einen an Leukämie erkrankten Jungen auf, der völlig falsch behandelt wurde und zu uns kam, weil die Behandlung nicht anschlug. Solche Fehler passieren weltweit immer wieder.
Auf der GPOH-Website listen wir alle Kinderkliniken auf, die qualifiziert sind, Kinderkrebs zu behandeln. Die deutsche Krebsgesellschaft lokalisiert darüber hinaus auf der sogenannten OncoMap-Landkarte für jede Krebsart die qualifizierten Behandlungszentren in Deutschland. Diese rund 30 Kliniken sind besonders qualifiziert. Zudem gibt es kleinere Häuser, die zwar nicht alle, jedoch die meisten Kinderkrebsarten behandeln. In Deutschland haben wir die hervorragende Situation, dass nahezu jeder im Umkreis von 50 bis 70 km ein Zentrum für Kinderkrebs vorfindet, das sich mit derartigen Behandlungen auskennt.
TRT: Wo finden Betroffene die richtigen Informationen?
Schrappe: Es gibt viele Informationsangebote für Laien und Eltern von krebskranken Kindern – mehr, als die meisten wissen. Zuverlässig sind die Informationen auf dem Kinderkrebsinfo-Portal der GPOH, die es dort zum Beispiel auch auf Türkisch, Russisch und Englisch gibt für Menschen, welche die deutsche Sprache nicht sprechen.
Die GPOH stellt für Eltern und Experten auch Fachinformationen bereit und informiert zudem über chronische Bluterkrankungen. Das ist möglicherweise für türkische Eltern interessant, deren Kind kein Krebs hat, denn gerade in der Türkei und vielen Mittelmeerländern kommen Bluterkrankungen häufiger vor als bei uns.
TRT:Worin sehen Sie die therapeutischen und psychosozialen Herausforderungen im Krankheitsverlauf bei Kindern?
Schrappe: Oft wird vergessen, dass wir nicht nur über ein medizinisches Problem reden. Aus Sicht des Kindes ist die medizinische Seite nicht so wichtig. Das Kind hat vor allem viel Angst, ebenso die Familie. In der Regel ist es eine große Katastrophe für die Familie, wenn eine solche Diagnose gestellt wird. Es ist verständlich, dass sich Betroffene erst einmal nur wenig bis gar nicht mit den Details der Behandlung und der Biologie des Tumors befassen.
Familien von krebskranken Kindern wollen wissen, dass sie an der richtigen Stelle sind und dass man ihnen hilft, die Probleme, die in zweiter Linie entstehen, zu lösen: Die Fragen reichen von der beruflichen Tätigkeit über die Geschwister bis hin zu Fragen der Ansteckung und dem Schulbesuch. Deshalb haben die meisten Zentren nicht nur Ärzte und Schwestern, sondern auch ein psychosoziales Team vor Ort: Sozialarbeiter, speziell ausgebildete Krankenschwestern oder Psychologen, die sich darum kümmern, dass Eltern nicht in ein tiefes Loch fallen. Dies ist ein großes Problem. Manche Eltern laufen Gefahr, ihren Job zu verlieren, wenn sie sich zu sehr ums Kind kümmern. Bei Familien mit Migrationshintergrund kommt zusätzlich oft noch das Problem der Sprachbarriere hinzu.
TRT:Welche Unterstützungsangebote sollten Familien mit krebskranken Kindern kennen?
Schrappe: Es gibt inzwischen viel mehr Hilfsangebote und Möglichkeiten, sich auszutauschen, als früher. Organisationen wie die Deutsche Kinderkrebsstiftung unterstützen die Familien durch Elterngruppen, Geschwisterangebote und Nachsorge, teilweise auch finanziell, indem sie ihnen anfangs eine Spende zukommen lassen, damit sie die zusätzlichen Ausgaben decken können, die mit den Veränderungen im familiären Leben und der Einkommenssituation einhergehen.
Bei fortgeschrittener Behandlung, nachdem der Anfangsschock vorbei ist, stellen sich neue Fragen, z.B.: Was bedeutet es, wenn mein Kind Knochenkrebs hat und eine große OP braucht? Wird es danach wieder laufen können? Falls nicht, was bedeutet das für Schule und Berufswahl? Auch um solche Fragen kümmert sich die Stiftung.
Sie bietet Familien nach Abschluss der Behandlung eine familienorientierte Nachsorge an. Alle Familien haben darauf Anspruch. Das sind spezielle Kurklinik-Aufenthalte, damit die Familie zusammenkommt, denn im Verlauf einer Kinderkrebserkrankung vernachlässigen Eltern sich oft selbst und auch die Geschwister. Für die Kinder selbst gibt es auch Camps, zum Beispiel in Heidelberg und auf Sylt, wo Gleichaltrige ohne Eltern zusammenkommen und sich gemeinsam durch Sport, Spiele und Gespräche ihren Weg zurück ins normale Leben erarbeiten können.
TRT:Gibt es aktuell neue Durchbrüche in der Diagnostik von Kinderkrebs?
Schrappe: Die Fortschritte in der Diagnostik sind immer punktuell. Bei Knochenkrebs beispielsweise ist im Vergleich zu früher die Qualität der MRT-Untersuchungen deutlich besser. Man sieht heute auf der Kernspintomografie bereits kleinste Veränderungen und untersucht mit weniger Strahlenbelastung.
Im Kernspintomografen kann man den Tumor heute inzwischen nicht nur untersuchen, sondern gleichzeitig messen, wie stoffwechselaktiv er ist. Die sogenannte Positronen-Emissions-Tomografie (PET MRT) erlaubt eine viel genauere Vorhersage, ob der Tumor noch aktiv oder schon abgestorben ist. Über Tumore und Leukämie wissen wir auch biologisch viel mehr als früher, denn wir können Gewebeproben besser analysieren und genetisch untersuchen.
TRT:Aus Ihrer persönlichen Erfahrung als Arzt: Was ist bei der Diagnosenstellung und im Therapieverlauf das Wichtigste im Umgang mit krebskranken Kindern und ihren Angehörigen?
Schrappe: Ehrlichkeit und Offenheit. Ich bin seit 35 Jahren in der Kinderkrebsbehandlung tätig. Es ist eine anspruchsvolle Arbeit, weil die Schicksale oft tragisch sind und die Diagnosen oft spät zustande kommen. Was ich eindeutig gelernt habe und wofür mir Eltern immer wieder dankbar sind, ist, dass man vom allerersten Moment an ehrlich miteinander umgeht und nicht versucht, um den heißen Brei herumzureden.
Das heißt auch, dass man offen mit den Kindern und Jugendlichen darüber spricht, dass sie sterben müssen, wenn mal eine Behandlung nicht mehr funktioniert, weil der Krebs so resistent ist. Das wird ja manchmal selten bis gar nicht thematisiert. Oft werden Familien nach Hause entlassen, und jemand anderes kümmert sich darum. Wir sollten das nicht ausblenden. Es ist naiv zu glauben, dass betroffene Kinder und Jugendliche darüber nicht nachdenken oder reden. Manchmal reden Kinder aber auch gar nicht mehr – auch dann ist es wichtig, mit ihnen zu sprechen.
Die Kinderkrebsstation ist trotzdem eine sehr fröhliche Station. Wir machen viele Aktivitäten und haben auch in den Visiten viel Spaß miteinander, weil wir Krebs erst einmal als normale Erkrankung definieren und versuchen, einen normalen Umgang damit zu entwickeln. Das ist für die Betroffenen enorm wichtig.
TRT:An welchen neuen Therapieverfahren wird in Deutschland derzeit geforscht?
Schrappe: Viele Therapien machen Fortschritte. Erwähnenswert ist hier zum Beispiel die Immuntherapie, die für die Behandlung von Leukämie und bestimmten Lymphknotenkrebsen, wahrscheinlich auch bei Neuroplastomen, auf breiter Front zunehmend eine Rolle spielt.
Die Immuntherapie ist ein riesiges neues Feld und eine spannende Entwicklung. Als Schulmediziner verstehen wir darunter die Stärkung und Stimulation der körpereigenen Abwehrzellen, so dass diese den Krebs selbst angreifen können. Hierfür gibt es tolle Beispiele aus den letzten Jahren. Ich gehe fest davon aus, dass auf diesem Gebiet in den nächsten zehn Jahren das Meiste passieren wird.
Immuntherapieansätze gibt es für Kinder wie auch für Erwachsene, aber nicht für jeden Krebs. Wie sich die verschiedenen Immuntherapie-Ansätze am Ende durchsetzen, ist aktuell noch nicht absehbar. Auch hier gibt es Nebenwirkungen, jedoch ganz andere als eine Chemotherapie oder Bestrahlung.
Die Potenz dieser Therapie ist allerdings enorm. Deswegen setze ich mich dafür ein, dass wir die Vorteile systematisch untersuchen. So leite ich z.B. aktuell eine große Leukämie-Studie (AIEOP BFM ALL 2017), die aktuell aufzeigt, dass dieses Therapieverfahren zumindest in Bezug auf die Nebenwirkungen günstiger ist.
TRT: Ist das vergleichbar mit der Knochenmarktransplantation?
Schrappe: Ja, doch anders als bei der Knochenmarktransplantation, die es bereits seit mehreren Jahrzehnten gibt und bei der zuerst eine Chemotherapie durchgeführt wird und dann Immunzellen und Knochenmarkszellen eines gesunden Spenders übertragen werden, haben wir heute neue Verfahren und Moleküle, die es erlauben, Patienten ohne Transplantation zu behandeln.
Kurzum: Die neuen Ansätze sind in der Praxis angekommen, werden in der Forschung jedoch noch verfeinert. Nicht alle Patienten kommen dafür in Frage. Es ist auch eine sehr teure Therapie. Da, wo sie funktioniert, wird sie erprobt.
TRT: Werden Sie die Immuntherapie auch bei Kinderkrebs einsetzen?
Schrappe: Im Rahmen eines großen europäischen Konsortiums prüfen wir solche Immuntherapien, zunächst bei den Patienten mit einer besonders ungünstigen Form der Leukämie, d.h. mit der schlechtesten Prognose. Wir schauen dabei nicht nur auf die Nebenwirkungen, sondern auch auf die Wirksamkeit. Ziel der Studie ist ein Therapieprotokoll für alle Kinder mit ALL (Akute Lymphoblastische Leukämie). Kinder in vielen Ländern nehmen aktuell daran teil.
TRT: Welche Rolle nimmt die GPOH als Fachgesellschaft wahr?Schrappe: Wir tragen zur Ausbildung von Ärzten zu diesem speziellen Thema bei und sorgen dafür, dass trotz der Seltenheit von Kinderkrebs die Kenntnisse aus den Studienprogrammen und Zweitmeinungen auch finanziell abgebildet, von den Krankenkassen anerkannt und vergütet werden, insbesondere bei speziellen Untersuchungen bei einzelnen Ärzten und in Spezialkliniken. Dies durchzusetzen, ist eine wichtige Aufgabe der GPOH.
Als Fachgesellschaft orientieren wir uns an Neuentwicklungen und tragen dafür Sorge, dass alle ausreichend qualifizierten Kliniken entsprechende Therapieformen für Kinder anbieten. Auch hier verhandelt die GPOH mit den Kassen über Ressourcen und Kostendeckung, damit solche Therapien nur von entsprechend qualifizierten Experten durchgeführt werden.
Gemeinsam mit den Betroffenen, Kindern und Eltern, überlegen wir, wo die Bedürfnisse am größten sind. Da diese Krebsarten so selten sind, machen wir das in Deutschland nicht allein, sondern mit anderen europäischen Ländern zusammen, teils auch mit Amerikanern, Japanern und Australiern. Kommt ein Krebs deutschlandweit nur drei Mal pro Jahr vor, kann man damit nicht forschen. Tritt er weltweit jedoch fünfzig Mal auf, wird Forschung möglich. Deswegen ist die internationale Zusammenarbeit wichtig.
TRT: Vielen Dank für das Gespräch!