GESELLSCHAFT
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‚Das Gift des Rassismus‘: Muslimische Gemeinden warnen vor gesellschaftlicher Spaltung
Eine harmlose Bitte auf einem Dresdner Spielplatz endete 2009 in einem der brutalsten Hassverbrechen Deutschlands: Der Mord an Marwa El-Sherbini. Aktuelle Zahlen belegen, dass dieser Rassismus heute aggressiver und alltäglicher als je zuvor ist.
‚Das Gift des Rassismus‘: Muslimische Gemeinden warnen vor gesellschaftlicher Spaltung
‚Das Gift des Rassismus‘: Muslimische Gemeinden warnen vor gesellschaftlicher Spaltung. / Foto: Ronny Geißler / others
3. Juli 2025

Es war an einem Sommerabend im August 2008, als Marwa El-Sherbini, eine ägyptische Pharmazeutin und junge Mutter mit ihrem kleinen, zweijährigen Sohn auf einem Spielplatz im Dresdner Stadtteil Johannstadt unterwegs war. Da beide Schaukeln bereits belegt waren, bat die 31-jährige, ehemalige Handball-Nationalspielerin höflich einen Mann, Platz für ihr Kind zu machen. Doch statt einer freundlichen Reaktion erntete sie wüste Beschimpfungen. Der Mann wurde ausfallend, forderte sie auf, den Spielplatz zu verlassen, und beschimpfte sie auf übelste Weise, allein wegen ihres Kopftuchs und ihrer Herkunft. Die junge Akademikerin verklagte daraufhin den jungen Mann.

Knapp ein Jahr später, am 1. Juli 2009, sollte El-Sherbini als Zeugin in dem Prozess gegen den Mann aussagen, der sie und ihr Kind damals rassistisch attackiert hatte. Doch was als Gerichtstermin begann, endete in einer unfassbaren Tragödie: Der Angeklagte griff die inzwischen schwangere Apothekerin sowie ihren Ehemann, der als Doktorand am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden forschte, im Gerichtssaal mit einem Messer an. El-Sherbini wurde noch vor Ort, vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes und ihres Mannes mit 18 Messerstichen ermordet. Ihr Ehemann, der ihr noch helfen wollte, wurde mit drei Messerstichen lebensgefährlich verletzt. Ein herbeieilender Polizist hielt zudem nicht den eigentlichen europäisch aussehenden Täter, sondern den dunkelhaarigen Ehemann für den Angreifer und traf ihn mit einem Schuss aus seiner Dienstwaffe in ein Bein.

Deutschlands erster ‚islamfeindlicher Hassmord‘ und seine Folgen

Der Fall markierte einen traurigen Wendepunkt in der deutschen Justizgeschichte, denn erstmals wurde in Deutschland „antimuslimischer Rassismus“ als Hauptmotiv einer Mordtat benannt. Aufsehen erregte die Mordtat damals auch verständlicherweise innerhalb der muslimischen Community in Deutschland. Der Koordinierungsrat der Muslime (KRM), der damals noch die Religionsgemeinschaften DITIB, VIKZ, den Islamrat sowie den Zentralrat der Muslime (ZMD) vereinigte, rief dazu auf, deutschlandweit während des Freitagsgebetes für die ermordete junge Frau zu beten. In einer weiteren gemeinsamen Mitteilung fand der KRM klare Worte für den ersten offiziell islamfeindlichen Hass-Mord in Deutschland: Marwa El-Sherbini sei „aus Hass auf die Muslime und Fremde erstochen“ worden hieß es in der Stellungnahme. Und weiter: „Marwa ist das bisher tragischste Opfer unserer muslimischen Schwestern, die unter Demütigungen, Verdächtigungen und Diskriminierungen zu leiden haben. Marwa ist auch Opfer der Hetze und Verleumdungen, die spätestens seit der Zeit der Entscheidung zum Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst und auf einschlägigen Internetseiten betrieben wird. Die insbesondere an ihrer Bekleidung erkennbaren muslimischen Frauen sind unterdessen weitgehend gesellschaftlich und menschlich abgewertet.“ Der Tod habe die Muslime in Deutschland „in Angst und Schrecken versetzt“. Die Politik müsse „endlich die Islamphobie in unserem Land ernst nehmen“. In Erinnerung an das Opfer wurde der 1. Juli zum bundesweiten „Tag gegen antimuslimischen Rassismus“ erklärt.

CLAIM Allianz: Zahl antimuslimischer Vorfälle auf Höchststand

In der Tat erreichten antimuslimische Straftaten in Deutschland im Jahr 2024 einen neuen Höchststand. Laut dem Jahresbericht der CLAIM-Allianz, ein 2017 gegründeten Zusammenschluss von 51 muslimischen und nicht-muslimischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Projekten gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit mit Sitz in Berlin, wurden für das letzte Jahr insgesamt 3080 Übergriffe sowie Diskriminierungen dokumentiert. Das ist ein Anstieg um fast 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr mit 1926 Fällen. Demnach wurden 2024 durchschnittlich mehr als acht islamfeindliche Vorfälle pro Tag registriert. In 70 Fällen richteten sich die Angriffe gegen religiöse Einrichtungen wie Moscheen. Zudem zählte die Organisation 198 Körperverletzungen und zwei Tötungsdelikte. Etwas mehr als die Hälfte aller Vorfälle waren verbale Angriffe, etwa ein Viertel Diskriminierungen. Der Großteil der registrierten Sachverhalte betraf muslimische Frauen und ereignete sich im öffentlichen Raum sowie im Bildungsbereich. Die Fachleute gehen seit jeher von einer weit höheren Dunkelziffer aus.

Integrationsbeauftragte der Bundesregierung: „Jeder Einzelne ist gefragt“

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Natalie Pawlik (SPD), sagte nach bekannt werden des CLAIM-Berichts: „Gewalt, Ausgrenzung und Beleidigungen gegen Musliminnen und Muslime sind Alltag in Deutschland“, was nicht akzeptiert werden dürfe. „Wir müssen das ganze Ausmaß von antimuslimischem Rassismus benennen und deutlich dagegen vorgehen. Denn nur wenn antimuslimischer Rassismus für alle sichtbar ist, können wir ihn auf allen Ebenen gezielt zurückdrängen.“ Auch jede und jeder Einzelne sei gefragt, bei Vorfällen zu widersprechen, einzuschreiten und solidarisch zu sein, so die Integrationsbeauftragte.

Bündnis schlägt Alarm: Rassismus wird immer normaler

Die Co-Geschäftsführerin der CLAIM-Allianz, Rima Hanano, beklagte „in Deutschland eine neue Eskalationsstufe antimuslimischer Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung“. Es gebe eine „neue Qualität von antimuslimischem Rassismus in Form einer zunehmenden Normalisierung, Enthemmung und Brutalität“. Frauen mit Kopftuch würden bespuckt, Kinder auf dem Schulweg beschimpft, Moscheen mit Hakenkreuzen beschmiert. Menschen verlören Wohnungen, Jobs, Sicherheit und ihre Würde. Antimuslimischer Rassismus bedrohe „die Teilhabe und das Vertrauen in unsere Demokratie – jeden Tag“. Die Bundesregierung müsse schnell handeln, „mit einer klaren Haltung und konkreten Maßnahmen“, so die Co-Geschäftsführerin des Bündnisses.

Muslimische Gemeinden schockiert über Rekordzahl an Moschee-Angriffen

Der rasante Anstieg muslimfeindlicher Übergriffe in Deutschland rief auch Reaktionen aus den Reihen der muslimischen und deutsch-türkischen Community hervor: Die Türkisch-Islamische Union (DITIB) schlug Anfang Juni bei der Vorstellung ihres Jahresberichts zu Moscheeübergriffen Alarm: Die Organisation verzeichnete für das Jahr 2024 175 Angriffe auf muslimische Gotteshäuser, ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr (137 Fälle) und fast viermal so viele wie noch 2021. „Jeder einzelne Vorfall zeigt, welchen Schaden Diskriminierung anrichtet – nicht nur an Gebäuden, sondern auch in den Herzen von Gemeinden, Familien und unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern“, erklärte Dr. Zekeriya Altuğ, Leiter der DITIB-Antidiskriminierungsstelle. „Dieses Gift des Rassismus zersetzt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das muss uns alarmieren! Muslime dürfen nicht länger als Blitzableiter gesellschaftlicher Spannungen dienen“, so der Physiker. Als Konsequenz forderte die DITIB von Politik, Medien und Gesellschaft entschiedenes Handeln wie z.B. besseren Schutz für islamische Einrichtungen, konsequentere Strafverfolgung und eine verstärkte öffentliche Auseinandersetzung mit antimuslimischem Rassismus.

Zudem forderte der Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG), Ali Mete, mehr Sensibilisierung in Behörden und Schulbüchern sowie einen eigenen Bundesbeauftragten gegen antimuslimischen Rassismus. „Noch immer vermitteln Schulbücher ein verzerrtes Bild: Migration wird überwiegend als Problem dargestellt, nicht als Teil unserer gesellschaftlichen Realität“, sagte Mete im Gespräch mit Stefanie Witte dem Berliner „Tagesspiegel“.

Auch Kenan Aslan, Vorsitzender der Union Internationaler Demokraten (UID), reagierte auf die jüngsten Berichte und Zunahme der Angriffe auf Muslime und ihren Einrichtungen mit deutlichen Worten: „Diese Hassverbrechen hinterlassen tiefe psychologische und soziale Spuren in der muslimischen Gemeinschaft. Der Kampf gegen Islamfeindlichkeit erfordert jetzt entschlossenes Handeln von Gesellschaft und Politik!“, schrieb er auf der Plattform X.

Nicht nur ein Gedenktag, sondern ein Weckruf für die Gesellschaft

Marwa El-Sherbinis Name steht symbolisch für eine Gewalttat, die längst kein Einzelfall mehr ist. Die jüngsten Berichte zu Moscheeübergriffen und islamfeindliche Straftaten belegen eine beispiellose Eskalation: Moscheen werden attackiert, Frauen auf offener Straße angefeindet, Kinder beschimpft. Die alarmierenden Zahlen sind mehr als Statistik. Sie zeigen, wie tief Rassismus bereits in den Alltag eingedrungen ist. Die Forderungen der muslimischen Organisationen sind klar: Es braucht nicht nur mehr Schutz, sondern eine gesellschaftliche Gegenwehr. Denn erst das Wegschauen macht diese Gewalt möglich. Marwas Erbe darf nicht nur ein Gedenktag sein, es muss ein Weckruf bleiben.

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