POLITIK
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Zwischen Kontrolle und Chaos: Symbolpolitik statt Verantwortung
Während sich die Politik hinter „Sicherheit“ verschanzt, verlieren Schutzsuchende ihre Rechte – und Europa seine Werte.
Zwischen Kontrolle und Chaos: Symbolpolitik statt Verantwortung
Zwischen Kontrolle und Chaos: Symbolpolitik statt Verantwortung. / Foto: Andreas Gebert/Getty Images
3. Juli 2025

Die Welt befindet sich in einer Phase zunehmender politischer Polarisierung. Mit der Wiederwahl von Donald Trump in den USA hat sich der globale Trend hin zu nationalistischen, migrationskritischen Positionen weiter verfestigt. In Europa ist ein ähnliches Bild zu beobachten. In Frankreich, den Niederlanden, Italien und zuletzt auch in Deutschland sind rechte oder rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch – sei es in der Regierung oder als zunehmend einflussreiche Oppositionskräfte.

In Deutschland zeigt sich dieser Wandel besonders deutlich an der Strategie der CDU/CSU. Die Union, traditionell als Kraft der Mitte wahrgenommen, übernimmt zunehmend migrationskritische Positionen, die früher nur der AfD vorbehalten waren. Ziel ist es offenbar, Wähler zurückzugewinnen. Tatsächlich stärkt diese Annäherung aber vor allem die AfD, indem sie deren Agenda legitimiert und normalisiert.

Symbolpolitik auf Kosten von Menschenrechten

Ein zentrales Beispiel dieser Entwicklung ist die kürzlich vom Bundestag beschlossene Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre. Diese Entscheidung betrifft vor allem syrische Bürgerkriegsflüchtlinge, die bereits seit Jahren getrennt von ihren Angehörigen leben. Dass diese Regelung sogar rückwirkend gelten soll, wirft erhebliche rechtliche und ethische Fragen auf.

Selbst Altkanzlerin Angela Merkel hat sich von dieser Praxis distanziert. Bei einem Treffen mit Geflüchteten betonte sie, dass jede Person, die an der deutschen Grenze „Asyl“ sagt, zumindest ein Verfahren bekommen müsse. Diese Aussage unterstreicht die Bedeutung rechtsstaatlicher Verfahren – unabhängig von politischen Stimmungen oder populistischen Forderungen.

Merkel warnte zudem davor, migrationspolitisch der AfD zu folgen. Wer nur noch über die Tagesordnung der AfD spricht, verliere den Blick für jene Menschen, die eine humane und gerechte Migrationspolitik erwarten.

Fragwürdige Rechtsgrundlagen und institutionelle Warnungen

Besonders umstritten ist auch die aktuelle Praxis, Asylsuchende an der Grenze abzuweisen. Die Bundespolizei ist befugt, Personen, die aus angeblich sicheren Drittstaaten wie Polen einreisen, die Einreise zu verweigern. Das Berliner Verwaltungsgericht hat diese Praxis bereits in einem konkreten Fall für rechtswidrig erklärt.

Trotzdem hält das Innenministerium unter Alexander Dobrindt an dieser Linie fest. Der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Andreas Korbmacher, äußerte Zweifel, ob die Bundesregierung diesen Kurs auf Dauer aufrechterhalten könne. Die Aussage, es handele sich um eine „Einzelfallentscheidung“, sei juristisch nicht haltbar. Vielmehr sei das zuständige Gericht bewusst als letzte Instanz vorgesehen, um schnelle und abschließende Entscheidungen zu ermöglichen. Wenn diese Urteile die Bundesregierung nicht zum Umdenken bewegen, stellt sich die Frage, wie ernst man dort den Rechtsstaat tatsächlich nimmt.

Auseinandergerissene Familien und moralische Verantwortung

Der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte war bereits zuvor auf 1.000 Personen pro Monat begrenzt. Nun soll er nur noch in Härtefällen erlaubt sein, wobei unklar bleibt, wie diese definiert werden. Für viele Betroffene bedeutet das: weitere Jahre ohne ihre Kinder, Ehepartner oder Eltern – trotz legalem Aufenthalt in Deutschland.

Die evangelische Kirche hat sich deutlich gegen diese Politik ausgesprochen. Bischof Christian Stäblein erklärte, dass Familienzusammenführung ein Gebot der Nächstenliebe sei und Integration erheblich erleichtere. Wer mit seinen Liebsten in Sicherheit lebt, lernt schneller Deutsch, findet eher Arbeit und wird Teil der Gesellschaft. Diese Erkenntnisse werden jedoch ignoriert, wenn politische Symbolik wichtiger erscheint als menschliches Leid.

Europäische Zusammenarbeit in der Krise

Die Bundesregierung verteidigt ihre Grenzkontrollen mit dem Argument der „gemeinsamen europäischen Lösung“. Kanzler Friedrich Merz betont immer wieder, wie wichtig die Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten sei. Tatsächlich aber führen solche Maßnahmen zu wachsender Konfrontation. Polen kündigte nun ebenfalls Grenzkontrollen zu Deutschland und Litauen an – aus Protest gegen die einseitige deutsche Politik.

Ministerpräsident Donald Tusk erklärte, sein Land habe bereits im März auf die bevorstehenden deutschen Kontrollen hingewiesen und mehrfach mit dem neuen Kanzler gesprochen. Die bisher geduldige Haltung Polens sei nicht mehr aufrechtzuerhalten, vor allem weil mittlerweile auch Menschen aus Deutschland nach Polen zurückgeschickt würden. Damit kippt das fragile Vertrauen, das einst die Grundlage des Schengen-Raums bildete.

Diese Eskalation zeigt, wie sehr nationale Einzelinteressen das europäische Miteinander gefährden. Statt gemeinsame Lösungen zu suchen, werden bilaterale Reaktionen zum Normalfall. Der Rückgriff auf Grenzkontrollen ist kein Zeichen von Ordnung, sondern Ausdruck wachsender Ratlosigkeit und gegenseitigem Misstrauen. Wenn selbst EU-Mitglieder anfangen, sich gegenseitig Menschen „zurückzuschieben“, dann steht nicht nur die Freizügigkeit, sondern das europäische Projekt insgesamt zur Disposition.

Kurzfristiger Nutzen, langfristiger Schaden

CDU und CSU betonen, es gehe um Ordnung und Steuerung der Migration. Innenminister Dobrindt sprach sogar davon, ein „Geschäftsmodell der Schlepper“ zerstören zu wollen. Doch solche Formulierungen dienen vor allem dazu, Ängste zu schüren und politische Härte zu demonstrieren.

Gleichzeitig nehmen viele SPD-Abgeordnete diese Politik nur zähneknirschend hin. Die Zustimmung zur Aussetzung des Familiennachzugs sei eine Kompromissentscheidung, um die Koalition nicht zu gefährden, heißt es. Doch politische Stabilität darf nicht zum Selbstzweck werden, wenn sie auf dem Rücken der Schwächsten errichtet wird.

Die Linke spricht von „grausamer Symbolpolitik“, die Grünen von „unbarmherzigen“ Maßnahmen. Und tatsächlich hat sich ein Klima der Kälte und Konformität breitgemacht, das kaum noch Raum für differenzierte Debatten lässt.

Was für ein Land will Deutschland sein?

Die entscheidende Frage lautet: Welche Werte sollen die deutsche Migrationspolitik prägen? Sollen kurzfristige Wahltaktiken, Grenzziehungen und populistische Rhetorik das Handeln bestimmen? Oder soll Deutschland ein Land bleiben, das sich auf seine humanitären Grundsätze besinnt und Teil einer solidarischen europäischen Zukunft sein will?

Der gegenwärtige Kurs mag innenpolitisch kalkuliert erscheinen. Doch er hat einen hohen Preis – für die Betroffenen, für die europäische Idee und für das moralische Selbstverständnis dieses Landes. Eine Politik, die sich von der AfD treiben lässt, verliert nicht nur ihr Profil, sondern auch ihren Kompass.

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