GESELLSCHAFT
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Staatsräson am Scheideweg: Israels Kriege und deutsche Dilemmata
Aus historischer Verantwortung wurde Staatsräson – doch was, wenn der Partner Kriegsverbrechen begeht und mit dem Atomschlag droht? Ein kritischer Blick auf eine moralisch aus dem Ruder gelaufene Solidarität.
Staatsräson am Scheideweg: Israels Kriege und deutsche Dilemmata
Staatsräson am Scheideweg: Israels Kriege und deutsche Dilemmata. / Foto: Matthias Balk/dpa/picture alliance via Getty Images
21. Juni 2025

Deutschland setzt die Sicherheit Israels mit der eigenen gleich und bezeichnet dies als Staatsräson. Dieser Ansatz zeigt, dass sich die sicherheitspolitischen Strategien beider Staaten nahezu überschneiden und dass Deutschland Israel eine bedingungslose Sicherheitsgarantie gegeben hat. Diese weltweit einzigartige Beziehung hat einen historischen Hintergrund: Aufgrund des Holocaust sieht sich Deutschland in einer besonderen historischen Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk und hat diese Verantwortung zur Staatsdoktrin erhoben.

In diesem Zusammenhang ist Deutschlands besondere Sensibilität gegenüber Israel bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Bemerkenswert ist jedoch, dass es weltweit kein weiteres Beispiel gibt, in dem ein Staat seine eigene Sicherheit in einem solchen Maß mit der eines anderen Staates gleichsetzt. Damit stellt diese Konstellation sowohl in der diplomatischen Praxis als auch in der internationalen Politik eine erhebliche Ausnahme dar.

„Nie wieder“ muss universell gelten

Der nicht nachvollziehbare Teil dieser Beziehung liegt jedoch darin, dass Deutschland unter dem Leitsatz „Nie wieder“ erklärt hat, dass sich der Holocaust niemals wiederholen dürfe – und daraus eine bedingungslose Unterstützung für Israel ableitet. Dennoch hat Deutschland bisher – unabhängig von den Umständen – nie signalisiert, dass es sich von Israel distanzieren würde, selbst wenn dieses Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen, Völkermord begeht oder gar Nuklearwaffen einsetzt. Aus moralischer und ethischer Sicht müsste Deutschlands oberste Priorität jedoch dem Schutz der Menschlichkeit gelten. Auch wenn der Holocaust sich gegen die Juden richtete, war er zugleich ein Verbrechen gegen die gesamte Menschheit. Daraus ergibt sich, dass Deutschland auch eine historische Verantwortung dafür trägt, dass sich ein solcher Völkermord gegen keine andere Gesellschaft jemals wiederholt.

Aus dieser Verantwortung gegenüber der Menschheit heraus müsste Deutschland in der Lage sein, gegenüber Israel klar Stellung zu beziehen, sollte dieses sich solcher Verbrechen schuldig machen. Dies wäre sowohl moralisch als auch rational die richtige Politik. Leider haben wir bislang keine solchen Schritte seitens Deutschlands beobachten können.

Das Ende aller roten Linien?

Die gefährlichen Folgen dieser Haltung zeigen sich aktuell sehr deutlich im Krieg zwischen Iran und Israel. Aus neutraler Perspektive lässt sich feststellen, dass sowohl im Iran als auch in Israel radikale, fundamentalistische Regime an der Macht sind, die unter Berufung auf theologische Ansprüche nach Überlegenheit und regionaler Hegemonie streben. Während Iran unter Missachtung internationaler Normen Nuklearwaffen entwickelt, stellt Israel bereits heute eine Atommacht dar.

Die erste Priorität der israelischen Angriffe gegen den Iran scheint die Zerstörung des iranischen Atomprogramms zu sein, die zweite ein möglicher Regimewechsel. Besonders brisant ist hierbei die Tatsache, dass bestimmte Nuklearanlagen wie die in Fordo aufgrund technischer Kapazitäten nicht von Israel allein zerstört werden können. Israel ist auf die USA angewiesen, deren bunkerbrechende Waffen möglicherweise nicht ausreichen, um die Anlage zu zerstören. Dies führt zu einem äußerst gefährlichen Szenario.

Sowohl aus Israel als auch aus den USA mehren sich Hinweise darauf, dass der Einsatz taktischer Atomwaffen gegen die Anlage in Fordo erwogen wird. Wenn einmal eine taktische oder konventionelle Atomwaffe in die Gleichung der internationalen Politik eingeführt wird, ist der weitere Verlauf kaum vorhersehbar. Sollte Israel oder die USA eine solche Waffe – aus welchem Grund auch immer – gegen den Iran einsetzen, kann niemand garantieren, dass Russland nicht ebenfalls auf diese Mittel im Krieg gegen die Ukraine zurückgreift.

Zudem würde ein solcher Einsatz massive radioaktive Verstrahlung, große Flüchtlingsbewegungen, Chaos im Iran, möglicherweise einen Bürgerkrieg und eine Ausweitung von Terror und Migrationsströmen auf die umliegenden Länder und Europa nach sich ziehen. Europa wäre hiervon in erheblichem Maße betroffen.

Europa muss handeln – bevor es zu spät ist

Deshalb ist es unerlässlich, dass Europa – allen voran Deutschland – gemeinsam handelt, um diesen Wahnsinn zu stoppen. Israel muss in seinem Vorgehen gebremst und der Iran mit diplomatischen Mitteln davon überzeugt werden, sein Atomprogramm unter internationale Kontrolle zu stellen. Gleichzeitig muss auch Israels Nuklearprogramm unter internationale Aufsicht gestellt und seine Atomwaffen vollständig beseitigt werden. Dies ist entscheidend für den Frieden im Nahen Osten, in Europa und weltweit.

Offensichtlich ist es das Ziel des radikalen Netanjahu-Regimes, um jeden Preis an der Macht zu bleiben – selbst wenn dies bedeutet, den Nahen Osten von einem Krieg in den nächsten zu stürzen. Die Europäische Union und insbesondere Deutschland begnügen sich bislang damit, tatenlos zuzusehen. Doch es muss allen klar sein: Den Preis dieser Politik werden wir alle zahlen.

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