Seit Beginn der israelischen Militäroffensive im Gazastreifen sind in Gaza über 53.000 Menschen getötet worden, darunter rund 18.000 Kinder. Diese Zahlen belegen, dass das israelische Militär längst jedes Maß an Verhältnismäßigkeit verloren hat. Die humanitäre Lage verschärft sich dramatisch: Hunger und Seuchen breiten sich aus, die Bilder des Leids erschüttern die Weltöffentlichkeit – auch in Deutschland.
Kritik der Leitmedien an der israelischen Regierung
Zeitungsartikel, die noch vor einigen Wochen wahrscheinlich als „antisemitisch“ oder „israelfeindlich“ verunglimpft worden wären, erscheinen nun täglich in den Leitmedien. In einer aktuellen Umfrage befürworten „82 Prozent der befragten jüdischen Israelis eine gewaltsame Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen. Das ist kein Wunder: Die Umsiedlung der Palästinenser ist ein alter Traum der zionistischen Bewegung“, schreibt Christian Meier in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
Im März habe beispielsweise die israelische Umweltministerin Idit Silman noch unterstrichen: „Die einzige Lösung für den Gazastreifen besteht darin, dass er geräumt wird und es dort keine Gazaner mehr gibt.“ Meier warnt in seinem Beitrag vor einer besorgniserregenden Entwicklung: Die Popularität solcher Umsiedlungsfantasien deute auf „eine generelle Radikalisierungstendenz in der israelischen Gesellschaft“ hin. „Was früher als extremistisch galt, wird zunehmend salonfähig“, stellt der Autor fest. Besonders alarmierend sei, dass Premierminister Netanjahu gezielt Politiker in seiner Regierungskoalition fördere, die offen rassistische und religiös-messianische Ideologien vertreten.
Ziviler und internationaler Druck auf Bundesregierung wächst
Immer lauter werden hierzulande Stimmen, die die deutsche Regierung zu einer kritischeren Haltung gegenüber Israel auffordern. Vor allem junge Menschen, Teile der politischen Linken, muslimische Vertreter sowie Studenten und Akademiker kritisieren Berlins Unterstützung für die Militäroperationen der Netanyahu-Regierung.
Die deutsche Politik navigiert damit auf schmalem Grat zwischen ihrer historischen Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus und dem demokratischen Anspruch, kontroverse Positionen zuzulassen. Auf internationaler Ebene sieht sich Deutschland mit wachsender Kritik konfrontiert. Zahlreiche Staaten fragen, wie sich die deutsche Haltung zu Israel mit dem gleichzeitigen Bekenntnis zu universellen Menschenrechten vereinbaren lässt.
Kurswechsel in der Bundesregierung? „Israel geht zu weit“
Ein bemerkenswerter Vorstoß kam kürzlich von Felix Klein, dem Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. In einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ regte er an, das Prinzip der „Staatsräson“, Deutschlands bedingungslose Solidarität mit Israel, neu zu diskutieren. „Wir müssen uns mit aller Kraft dafür einsetzen, die Sicherheit Israels und der Juden weltweit zu bewahren“, betonte Klein. Doch fügte er entschieden hinzu, dass dies nicht bedeute, dass alles legitim sei. „Palästinenser auszuhungern oder die humanitäre Lage vorsätzlich zu verschlimmern hat nichts mit der Sicherung des Existenzrechts Israels zu tun. Und es kann auch nicht deutsche Staatsräson sein“, sagte der Antisemitismusbeauftragte.
Kleins Äußerungen spiegeln genau den oben genannten gesellschaftlichen und internationalen Druck wider. Dass nun ausgerechnet der Antisemitismus-Beauftragte die israelische Regierung kritisiert, deutet auf einen Kurswechsel hin: Berlin sucht offenbar einen realistischen Mittelweg zwischen historischer Verantwortung und menschenrechtlicher Glaubwürdigkeit. Der internationale Trend bestärkt dies. Selbst Verbündete Deutschlands wie die USA, Kanada, Spanien, Großbritannien oder Frankreich verknüpfen ihre Israel-Unterstützung zunehmend mit Menschenrechtsauflagen und drohen mit Sanktionen.
Erstmals kritisierte auch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) die Regierung Israels mit deutlich scharfen Worten. Daraufhin wurden innerhalb der Regierungskoalition schärfere Positionen lauter, wie die der SPD-Abgeordneten Isabel Cademartori: Durch Waffenlieferungen könne Deutschland sich „an Kriegsverbrechen mitschuldig machen“, warnte sie. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Armin Laschet (CDU), warf Israel zudem einen Bruch des Völkerrechts im Gazastreifen vor: „Menschen aushungern zu lassen, ist völkerrechtswidrig“, „Lebensmittellieferungen, Hilfslieferungen, Medikamentenlieferungen für die Bevölkerung zurückzuhalten“ verstoße gegen internationale Regeln“, sagte Laschet in einem ZDF-Interview. Zahlreiche SPD-Politiker sprachen sich darüber hinaus für ein Waffenembargo gegen Israel aus.
Umfragen zeigen: Israels verliert an Rückhalt unter Deutschen
Dabei schwindet nicht nur Israels politischer Kredit, sondern auch die öffentliche Unterstützung im Westen rapide. Eine YouGov-Eurotrack-Umfrage vom November 2024 belegt, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in Großbritannien, Deutschland, Italien, Spanien, Schweden und Dänemark Israels Vorgehen für „völlig überzogen“ hält. Allein am 18. Mai 2025 demonstrierten in Den Haag über 100.000 Menschen gegen die pro-israelische Politik ihrer Regierung, nur ein Beispiel unter vielen. Von London über Berlin bis Madrid gehen weiterhin regelmäßig Zehntausende gegen die Militäroffensive auf die Straße.
Auch die Solidarität innerhalb der deutschen Bevölkerung mit Israel bröckelt, und zwar deutlich. Aktuelle Umfragen zeigen eine sichtbare Kehrtwende in der öffentlichen Meinung: Laut dem jüngsten ZDF-Politbarometer halten mittlerweile 80 Prozent der Deutschen die israelische Militäroffensive im Gazastreifen für nicht gerechtfertigt. Noch im März 2024 lag dieser Wert bei 69 Prozent. Die Kritik hat also binnen weniger Monate deutlich zugenommen. Nur noch eine kleine Minderheit von 12 Prozent (März 2024: 18 Prozent) der Befragten bewertet das Vorgehen gegen die Hamas als angemessen.
Überdies verdeutlichen aktuelle Daten der Bertelsmann-Stiftung einen Stimmungswandel: Israels Ansehen in Deutschland befindet sich im freien Fall. Während 2021 noch fast jeder zweite Bundesbürger (46 Prozent) eine positive Haltung gegenüber dem Land vertrat, sind es im Mai 2025 nur noch 36 Prozent. Dieser markante Rückgang innerhalb weniger Jahre sollte zu denken geben, besonders vor dem Hintergrund der besonderen deutsch-israelischen Beziehungen. Eine aktuelle Civey-Umfrage bestätigt diesen Trend: Jeder zweite Deutsche lehnt Waffenlieferungen an Israel ab, nur etwa ein Drittel befürwortet sie noch.
Warnsignal erster Ordnung
Der Vertrauensverlust ist mehr als eine statistische Randnotiz, er spiegelt vielmehr eine grundlegende Veränderung wider. In einem Land, das sich aus historischer Verantwortung heraus stets besonders zur Solidarität mit Israel bekannte, deutet dieser Trend auf eine tiefgreifende Entfremdung hin. Die Politik der Netanjahu-Regierung, insbesondere ihr umstrittenes Vorgehen in Gaza, hat offenbar selbst in Deutschland nachhaltige Sympathien verspielt. Diese Entwicklung sollte alle Verantwortlichen alarmieren, sowohl in Jerusalem als auch in Berlin. Denn wenn selbst in Deutschland, wo die Unterstützung Israels lange als unantastbar galt, die Zustimmung so deutlich schwindet, dann ist dies ein Warnsignal erster Ordnung. Es zeigt: Die aktuelle Politik der israelischen Regierung isoliert das Land nicht nur international, sondern untergräbt auch jene besonderen Beziehungen, die über Jahrzehnte mühsam aufgebaut wurden.
Verspätete Kritik, verpasste Möglichkeiten und Gefahr der Mitverantwortung
Die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu agiert zunehmend losgelöst von der Realität und den Interessen der eigenen Bevölkerung. Rechtsnationale Hardliner wie Itamar Ben-Gvir, Bezalel Smotrich und Idit Silman verfolgen eine konsequente Eskalationspolitik. Die Blockade humanitärer Hilfe, insbesondere Lebensmittel und dringend benötigte Medikamente, die systematische Zerstörung von Krankenhäusern und Schulen sowie die Vertreibung Hunderttausender lassen sich nicht mehr als „Selbstverteidigung“ rechtfertigen. Sie verstoßen gegen fundamentale Prinzipien des humanitären Völkerrechts. Wer diese Tatsachen verschweigt, übernimmt Mitverantwortung. Gleiches gilt für Staaten, die weiterhin Waffen an die Konfliktparteien liefern. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Forderung nach einem Stopp der Rüstungsexporte zunehmend an politischem Gewicht.
Aber wo war die deutsche Politik in den letzten eineinhalb Jahren? Warum haben die Entscheidungsträger so lange gezögert, während das Leid wuchs: 53.000 Tote, über 120.000 Verletzte? Hätte ein früheres Eingreifen nicht Tausende Leben retten können? Und was bleibt von der Glaubwürdigkeit, wenn Menschlichkeit erst auf Druck folgt?
Deutschlands „Staatsräson“ verpflichtet zu Verantwortung, nicht zu bedingungsloser Zustimmung. Gerade die historische Verbundenheit gebietet es, klar zu sagen: So darf es nicht weitergehen! Die Mehrheit der Deutschen hält diesen Krieg für nicht mehr vertretbar. Die Bundesregierung zögerte lange, Position zu beziehen. Erst unter internationalem Druck und angesichts wachsender Mitverantwortung, insbesondere bei möglichen Kriegsverbrechen, wagt sie Kritik. Doch diplomatische Zurückhaltung ist hier kein Verantwortungsbewusstsein, sondern verpasste Chance.
Es ist Zeit zu handeln!
Kritik an der israelischen Regierung darf nicht als Angriff auf das israelische Volk missverstanden werden. Im Gegenteil: Gerade diejenigen, die Israels Existenzrecht verteidigen, müssen jetzt warnen, wenn dessen Regierung das Land in eine moralische und politische Isolation treibt. Die Stimmen der israelischen Friedensbewegung, die seit Monaten gegen Netanjahus Kriegspolitik protestieren, verdienen unsere Solidarität und nicht sein rücksichtsloses Kabinett.
Es ist Zeit zu handeln. Zeit, die Waffenlieferungen einzustellen. Zeit, wirksamen Druck für einen Waffenstillstand auszuüben. Zeit, die humanitäre Katastrophe nicht länger zu dulden. Vor allem aber ist es Zeit, die seit Jahrzehnten versprochene Zweistaatenlösung endlich mit politischem Willen zu unterfüttern.