POLITIK
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Zeitenwende im Westen: Türkiye als Schlüsselpartner Europas
Europa verliert an strategischer Handlungsfähigkeit. Eine engere Kooperation mit Türkiye könnte neue Resilienz schaffen, geopolitische Kräfteverhältnisse neu justieren und beiden Seiten sicherheitspolitisch sowie wirtschaftlich nutzen.
Zeitenwende im Westen: Türkiye als Schlüsselpartner Europas
Zeitenwende im Westen: Türkiye als Schlüsselpartner Europas. / Foto: AFP
8. Juli 2025

Mit der Entdeckung Amerikas beginnend, über die erste und zweite industrielle Revolution hinweg und schließlich mit der digitalen Revolution zur Vollendung gelangt, trat der Aufstieg der westlichen Zivilisation in eine Phase der Stagnation ein. Zwar musste der Westen im Laufe dieses Prozesses große Krisen wie die Napoleonischen Kriege sowie den Ersten und Zweiten Weltkrieg bewältigen – doch es gelang ihm stets, diese Herausforderungen zu überwinden, indem neue, stärkere Akteure, Akteursgruppen oder Allianzen hervortraten und eine kraftvollere Ordnung etablierten. Mit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre und dem scheinbar endgültigen Sieg des von den USA geführten westlichen Blocks schien diese Zivilisation ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Doch es lässt sich behaupten, dass sich die historische und philosophische Erkenntnis Ibn Chalduns – „Wenn etwas seine Vollendung erreicht, ist der Verfall nicht fern“ – auch im Fall des Westens bewahrheitet hat.

Die Covid-19-Pandemie ab 2020, der Ukraine-Krieg seit Februar 2022 sowie die israelischen Massaker ab Oktober 2023 führten dazu, dass sich der Westen in einem Strudel von Krisen wiederfand, aus dem er sich nicht befreien konnte. Jede dieser Krisen hinterließ nicht nur in den unmittelbar betroffenen Ländern schwere Schäden, sondern legte auch die zunehmend schwerfällige, reaktionsschwache und „veraltete“ Struktur des Westens offen.

Zwar überstand der Westen die Pandemie mit Mühe und konnte – unter anderem aufgrund des Bedeutungsverlusts internationaler Institutionen und seiner schwindenden diskursiven Überlegenheit – die Folgen der israelischen Angriffe relativ unbeschadet abfedern. Doch insbesondere die europäischen Staaten sehen sich mit der größten Herausforderung im Ukraine-Krieg konfrontiert – und diese hält weiterhin an. Während im Osten die Bedrohung durch ein zunehmend erstarkendes Russland wächst, sieht sich Europa im Westen – nach der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus – mit einem Führungsstil konfrontiert, der die transatlantischen Beziehungen grundlegend infrage stellt. Europa befindet sich damit in einem sicherheitspolitischen Dilemma zwischen zwei Fronten.

Eine der wichtigsten Lösungsoptionen, die Europa in dieser tiefgreifenden Krise zur Verfügung steht, ist zweifellos eine engere Zusammenarbeit mit Türkiye. In diesem Beitrag möchte ich erörtern, welche Formen der Kooperation Deutschland und Türkiye unter den aktuellen Krisenbedingungen – insbesondere mit Blick auf den Ukraine-Konflikt – eingehen könnten und welche Beiträge Türkiye leisten kann, um europäische Staaten aus ihrer geopolitischen Zwangslage zu befreien.

Krise statt Erneuerung: Der Westen auf dem Prüfstand

Folgt man Ibn Chalduns historischer Analyse über Entstehung, Aufstieg und Verfall von Staaten, so lässt sich feststellen: Der Westen – insbesondere Europa – ist in vielerlei Hinsicht gealtert. Nimmt man die im Vergleich zu Europa jüngere Macht USA aus dieser Betrachtung heraus, wird deutlich, dass der Kontinent – sowohl Großbritannien als auch das kontinentale Europa – weit von seinen „glorreichen Tagen“ entfernt ist. Politisch, wirtschaftlich, militärisch sowie in Bezug auf industrielle und technologische Entwicklungen ist eine deutliche Verlangsamung festzustellen.

Dabei ist es wichtig zu betonen: Dass der Westen altert und langsamer geworden ist, bedeutet keineswegs, dass er bereits schwach oder schwächer als andere Akteure wäre – zumindest noch nicht. Im Vergleich zu seinen Konkurrenten aus dem globalen Süden, vor allem aus dem Osten, bleibt der Westen in nahezu allen Bereichen weiterhin dominant. Würde man die Entwicklung von Zivilisationen als eine gerade Linie oder zurückgelegte Wegstrecke darstellen, wäre der Westen dem Osten gegenüber noch immer weit voraus. Doch das Fahrzeug, mit dem der Westen diese Strecke zurücklegt, wird zunehmend langsamer – während der Osten immer mehr an Tempo gewinnt. Mit jedem Jahr verkleinert sich der Abstand zwischen den Zivilisationen, und bleibt dieser Trend bestehen, wird der Westen langfristig ins Hintertreffen geraten.

Was also aus westlicher Perspektive zu tun ist, liegt auf der Hand: Es muss beschleunigt werden. Der Westen benötigt ein modernisiertes, leistungsfähigeres und widerstandsfähigeres „Fahrzeug“, das besser an das neue Zeitalter angepasst ist. Doch insbesondere seit dem Ausbruch der Pandemie 2020 ist zu beobachten, dass das Gegenteil geschieht: Statt sich zu erneuern, zu beschleunigen und zu stärken, produziert der Westen eine Krise nach der anderen – mit zunehmender Frequenz. Je mehr Störungen und Rückschläge auftreten, desto weniger scheinen Innovationen, neue Initiativen oder dynamische Strategien aus dem Westen zu kommen. Im Gegenteil: Mit jeder neuen Krise verlängert sich die Phase des Stillstands.

Offensichtlich braucht der Westen, um seine anhaltenden Krisen zu bewältigen, einen neuen Impuls, eine veränderte Perspektive – und vor allem neue Partner, die das Maß an Dynamik mitbringen, das ihm selbst inzwischen fehlt. Es braucht frische Energie, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und den Mut, in eine neue Phase strategischer Zusammenarbeit einzutreten.

Türkiye als strategischer Partner: Eine Chance für Europas Erneuerung

Der für den Westen nötige neue Impuls ist nicht in weiter Ferne. Er liegt in einem Land, das seit Jahren an Europas Seite steht – und dennoch konsequent übersehen oder ignoriert wurde: Türkiye. Während Türkiye in den vergangenen Jahren stetig an Einfluss gewann, wurde es von Europa – wenn wir die USA zur besseren Argumentationslogik vorübergehend ausklammern – über lange Zeit hinweg aus ideologischen und psychologischen Motiven ausgegrenzt. In zahlreichen Bereichen, in denen eine Zusammenarbeit klare Win-win-Potenziale geboten hätte, verzichtete Europa auf rationale Politik und stellte sich aus ideologischer Voreingenommenheit gegen Türkiye. Ob in der Syrien-Frage oder in der Migrationskrise: Ankara wurde immer wieder alleingelassen – Entscheidungen, die Europa am Ende oft mehr schadeten als Türkiye selbst. Als Folge verlor Europa zunehmend an politischem Gewicht, sowohl regional als auch international, und musste sicherheitspolitische Autonomie weiter an die USA abgeben. Anstatt zu einem führenden Akteur der internationalen Ordnung zu werden, wandelte sich Europa zu einer kaum sichtbaren Variablen.

Um diese Entwicklung umzukehren, wäre es für Europa an der Zeit, aus vergangenen Fehlern zu lernen und eine neue strategische Partnerschaft mit Türkiye aufzubauen. Die Grundlage dafür ist vorhanden: Im Ukraine-Krieg spielt Ankara nicht nur als Vermittler eine wichtige Rolle, sondern bietet auch durch seine militärischen und diplomatischen Kapazitäten ein Gegengewicht zur russischen Expansion. Die Bedrohung, die Russland über die Ukraine für Europa darstellt, gilt in gleichem Maße auch für Türkiye. Europas sicherheitspolitische Schwächen – insbesondere die Unfähigkeit, über kampffähige Streitkräfte oder ausreichende Rüstungskapazitäten zu verfügen – könnten durch die Zusammenarbeit mit Türkiye, das nach den USA die zweitgrößte Armee in der NATO stellt und seine operative Stärke in Libyen, Karabach und Syrien unter Beweis gestellt hat, abgefedert werden.

Auch im Bereich Rüstung bietet Türkiye durch seine boomende Verteidigungsindustrie eine attraktive Alternative für ein Europa, das zunehmend unter seiner Abhängigkeit von den USA leidet. Während Europa kosteneffiziente und effektive Waffensysteme erhalten und seine Produktionskapazitäten ausbauen könnte, würde Türkiye neue Absatzmärkte gewinnen.

Nicht zuletzt leben in Deutschland und anderen europäischen Ländern Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Die lange gemeinsame kulturelle Erfahrung und die geteilte Lebensrealität bilden ein zusätzliches Bindeglied. Gemeinsame Interessen, gemeinsame Herausforderungen und eine gewachsene interkulturelle Verbindung – all das sind Faktoren, die eine verstärkte Zusammenarbeit erleichtern. Wenn Europa seine ideologische Blindheit überwindet und zu einer rationaleren Außenpolitik zurückkehrt, kann es gemeinsam mit Türkiye zu neuer Stärke finden – und ein zukunftsfähiger, dynamischer Kontinent werden.

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