POLITIK
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Ukraine-Krieg nach dem „Spinnennetz“: Eskalation oder Diplomatie?
Härte wird Russland im Ukraine-Krieg nicht zum Einlenken bringen. Das ist die Meinung vieler geopolitischer Fachleute. Angesichts einer drohenden Eskalation sei Diplomatie der einzige Ausweg.
Ukraine-Krieg nach dem „Spinnennetz“: Eskalation oder Diplomatie?
Ukraine-Krieg nach dem „Spinnennetz“: Eskalation oder Diplomatie? / Foto: Others / Public domain
8. Juni 2025

Als ukrainische Drohnen bei der „Operation Spinnennetz“ zahlreiche strategische russische Kampfflugzeuge vernichteten, herrschte bei vielen westlichen Beobachtern unverhohlene Freude. Immerhin wurde Bomber von vernichteten Typen im Ukraine-Krieg zum Beschuss gegnerischer Städte mit Marschflugkörper eingesetzt.  Während man noch recherchierte, wie viele Maschinen durch den Drohnenschlag vernichtet worden sind, mischten sich fachkundige, mahnende Stimmen in den Diskurs. Der exilrussische Militäranalytiker vom Central Intelligence Team Ruslan Lewiew stellte bereits kurz nach dem Angriff im Gespräch mit dem Sender Doschd fest, dass der Verlust der strategischen Bomber Russlands militärische Fähigkeiten nicht beeinflussen werde.

Experten sind skeptisch gegenüber militärischem Sieg der Ukraine

Die Politologin Tatjana Stanowaja vom Carnegie Russia Eurasia Center warnte im sozialen Netzwerk X vor Hoffnungen, dass der Kreml durch solche Angriffe zum Nachgeben gezwungen werden könne. Nach ihrer jahrzehntelangen Beobachtung von Putins Entscheidungsprozessen werde eher ein gegenteiliger Effekt erzielt. „Die Wahrnehmung, dass die geopolitische Ausrichtung der Ukraine eine langfristige existentielle Bedrohung darstellt, wird sich verfestigen (…). Sie werden Putins Kalkül nicht ändern, weder eine Palastrevolte noch einen Volksaufstand auslösen. Die aktuelle Politik verstärkt anti-westliche, anti-ukrainische und staatstragende Stimmungen in Russland.“

Der österreichische Russlandexperte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck teilt Stanowajas Meinung gegenüber TRT Deutsch ausdrücklich. Solche Angriffe bedeuteten für Russland, dass von der Ukraine Gefahr für seine nuklearen Streitkräfte ausgehe. „So wird sich der russische Standpunkt verhärten, dass die Ukraine außerhalb der NATO bleiben muss, neutral und bündnisfrei bleiben. Wenn das nicht durch Verhandlungen sichergestellt werden kann, wird Russland diese Lösung für sich militärisch anstreben.“

Stanowaja plädiert dabei weder dafür, dass der Westen seine Unterstützung der Ukraine zurückziehen noch die Ukraine kapitulieren soll. Aber man müsse sich darauf einstellen, dass „weiterhin erheblicher Spielraum für weitere Radikalisierung und Eskalation“ bestünde. Auch Mangott hält es nicht für sicher, dass Russland zu einer militärischen Durchsetzung seiner Ziele in der Lage sei. Die in der EU vorhandenen Gedanken, die Ukraine wiederum könnte den Konflikt gegen Russland militärisch gewinnen, hält er aber für eine „illusorische Hoffnung“.

Experten fordern diplomatische Paketlösungen

Die Erkenntnis über das aktuelle Eskalationspotential ist auch in die Führungsetagen der NATO vorgedrungen, die für öffentlichen Bedenken gegen ukrainische Militäraktionen wenig bekannt ist. Ein hoher NATO-Vertreter erklärte der Moscow Times unter dem Siegel der Anonymität vergangenen Mittwoch, dass Russland sicher Vergeltungsmaßnahmen ergreifen werde. „Russland brauchte bisher offenbar keinen großen Vorwand für seine recht heftigen Angriffe. Aber ich denke, Russland wird dies nutzen, um weitere, schwere Angriffe zu rechtfertigen und die Verhandlungen zu verzögern.“ Es bestünde die Gefahr einer Eskalation. Wie zur Bestätigung starteten die Russen nur zwei Tage später einen umfassenden Luftangriff mit mehr als 450 eingesetzten Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern auf die Ukraine.

Die Erkenntnis über eine Eskalationsgefahr besteht nun auch im Expertenumfeld der Bundesregierung. Alexej Yusupov, Leiter des Russlandprogramms der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung und sein Kollege Simon Weiß, sicherheitspolitischer Experte der Stiftung, taten sich zusammen für einen Beitrag zu den Folgen der „Spinnennetz“-Attacke im stiftungseigenen Fachjournal. Dieses wird auch unter den Außenpolitikern der SPD aktiv verbreitet.

Die beiden Experten konstatieren: Eine militärische Wende löse der Angriff nicht aus. Russland könne sein aktuelles aggressives Vorgehen noch ein bis drei Jahre unvermindert durchhalten. „Auf der Metaebene verliert auch Russland diesen Krieg – jedoch deutlich langsamer als die Ukraine. Und Moskau glaubt: Das genügt für einen Sieg.“

Während Gerhard Mangott nicht daran glaubt, dass die europäischen Staaten als Vermittler viel erreichen könnten, ließe sich eine Vereinbarung laut dem Duo Yusupov/Weiß nur durch Paketlösungen erreichen, die tragfähige Kompromisse enthielten und auch von Europa vorbereitet werden könnten. Das ist im politischen Berlin im Umfeld der Koalitionsparteien noch ein seltener Gedanke. Dort hatte man bisher eher den Eindruck, Außenpolitik gegenüber Russland sei Sache des Verteidigungsministeriums.

Die einflussreichen SPD-nahen Experten plädieren für ein Umdenken. „Es sind die Europäer, die das stärkste Eigeninteresse an einer politischen Lösung haben – und die daher auch den Mut und die Initiative aufbringen müssen, um Verhandlungen jenseits bekannter Maximalforderungen anzustoßen und aufzunehmen.“ Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, ob die politische Führung in Berlin diese mahnenden Worte ihrer geopolitischen Fachleute berücksichtigt.

Wandel im Diskurs: Mehr Fachleute plädieren für Verhandlungen mit Moskau

Die Alternative zu jedem Kompromiss ist Härte. Nach wie vor gibt es neben der Politik auch eine Fraktion von westlichen Experten, die jeden Kompromiss mit Moskau als Verrat an der Ukraine ansieht. Sie weist darauf hin, dass es quasi eine Belohnung für den Aggressor Putin sei, würde man Russland im Rahmen einer Vereinbarung einen Teil der von seinen Truppen überfallenen Ukraine überlassen. Doch diese Fraktion ist angesichts des immer längeren Krieges mit nur wenig Aussichten für eine Kiewer Rückeroberung der Gebiete leiser geworden und die Trennlinie zwischen Befürwortern und Gegnern von Kompromissen hat sich verschoben. Längst nicht mehr nur „prorussische“ Fachleute plädieren für Realismus und Diplomatie.

So meint im russlandkritischen Berliner Tagesspiegel Peter R. Neumann, Professor für Security Studies am Kings College in London, es gelte „außerhalb von Talkshow“ längst als ausgemacht, dass die Ukraine als Kriegsergebnis einen Teil ihrer Territoriums verlieren werde. Der Westen solle alles daran setzen, die übrige „Ukraine zu einer Art Südkorea zu machen“, also den unzweifelhaft attraktiveren Landesteil nach einem eingefrorenen Konflikt. Er hofft dabei auf eine Situation, aus der der westlich orientierte Teil des Landes „zum Magneten für den Osten wird“.

Gerhard Mangott glaubt, es sei eine fehlerhafte Einschätzung, dass mit Kompromisslosigkeit etwas gewonnen werden könne: „Der stets angepriesene Standpunkt Putin versteht nur Härte und deswegen müsse man Härte zeigen ist eine gefährliche, naive Illusion (…). Gerade unter Druck hat Putin immer das Gegenteil von dem getan, was der Druck erreichen wollte.“ So schwer Kompromisse zu erreichen sind: Die Alternative, einen langen harten Krieg mit ungewissem Ausgang, sieht eine wachsende Zahl von Fachleuten als schlechtere Alternative.

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