Politik
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Strategische Imperative in neuer Weltlage
Beim offenen Schlagabtausch zwischen Trump und Selenskyj im Oval Office werden gleich mehrere Wahrheiten offenbart. Sie werden noch für einige Zeit die Weltlage und die Weltprobleme bestimmen.
Strategische Imperative in neuer Weltlage
28.02.2025, USA, Washington: Stühle werden vom Unterzeichnungstisch im Weißen Haus entfernt, nachdem ein Treffen zwischen US-Präsident Trump und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Oval Office in Washington DC in hitzige Worte ausartete. Die Gespräche wurden abgebrochen. Selenskyj verließ das Weiße Haus vorzeitig, ohne ein geplantes Abkommen über den US-Zugang zu ukrainischen Rohstoffen zu unterzeichnen. Foto: Carol Guzy/ZUMA Press Wire/dpa
2. März 2025

Es gibt Momente in der Geschichte, die Dinge ans Licht bringen, die lange im Verborgenen geblieben sind. Bei der Begegnung zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und US-Präsident Donald Trump im Oval Office, die zum Schlagabtausch vor laufenden Kameras geriet, wurden gleich mehrere Wahrheiten offenbart, die noch für einige Zeit die Weltlage und die Weltprobleme bestimmen werden.

Ukraine-Krieg vor Auflösung

Der Ukraine-Krieg steht nach drei Jahren vor seiner Auflösung. Er wird mit einer oktroyierten Kompromissformel enden, die noch auf lange Zeit die Verhältnisse in Europa belasten und beschäftigen wird. Ein gerechter Frieden wird es voraussichtlich nicht werden. Die psychologischen Auswirkungen von auferlegten Friedensregelungen können bei den diplomatischen Nachwirkungen der Pariser Vorortverträge, die den Ersten Weltkrieg beendet haben, studiert werden.

Es hat sich leider einmal mehr gezeigt, dass Strategie das Zusammenspiel von Militärstrategie und Diplomatie ist. Der lange Verzicht auf Diplomatie fordert jetzt ebenso seinen Preis ein, wie das militärstrategische Zögern der westlichen Verbündeten in den Anfangsjahren des Krieges mit dazu beigetragen hat, dass das strategische Blatt der Ukraine so schlecht geworden ist, wie es heute objektiv ist.

Der Eklat im Weißen Haus ist eine Zustandsbeschreibung, die gleich in mehrerlei Hinsicht beunruhigend ist. Man muss in der Geschichte weit zurückgehen, um eine ähnlich große Spannung zwischen Amerikanern und Europäern zu diagnostizieren. Im Ausmaß vergleichbar ist sie mit der Suezkrise von 1956, als der britische Premierminister Anthony Eden die Nerven verlor und der strategische Alleingang von Briten und Franzosen kurz darauf vom US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower kassiert wurde.

Trump lässt Worten Taten folgen

Bei aller Disruption, die Trump verkörpert, kann ihm niemand vorwerfen, strategisch inkonsistent zu sein und nicht den Worten auch Taten folgen zu lassen. Die verbale Attacke, die Vize-Präsident J.D. Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz – es war der falsche Ort, aber aus US-Sicht wohl der richtige Zeitpunkt – gegen die Europäer ritt, war nur das Präludium. Trump versteht sich als „Deal-Maker“. Deals können auch erzwungen und zulasten Dritter gehen. Trump hatte sich vorgenommen, die Europäer in ihren Schwächen vorzuführen. Zu diesen Schwächen zählt: mangelnde Einigkeit, infantiles Verteidigungsverhalten, strukturelle Defizite. 

Die Ukraine ist ein europäisches Problem, an dessen Entstehung durch jahrelanger strategischer Vernachlässigung und falscher strategischer Einschätzung die Europäer, und nicht zuletzt auch die Europäische Kommission, einen großen Anteil haben. Wenn nach dem bevorstehenden Waffenstillstand eine internationale Friedensmission auf der Grundlage eines Mandats des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zusammengestellt wird, werden die Europäer den größten Anteil zu schultern haben. 

Dieses Problem wird eher früher als später auf die einzelnen europäischen Staaten zukommen und grundlegende verteidigungspolitische Neuausrichtungen erfordern. Gegenwärtige Debatten über die Höhe des Anteils des Verteidigungshaushalts am Bruttonationalprodukt sind vor diesem Hintergrund eher ein Vorgeplänkel. Denn es steht außer Frage, dass Europa sicherheitspolitisch zum einen Quantensprung ansetzen muss.

Atlantische Allianz gefährdet

Schwerer wiegt, dass der Zusammenhalt in der Atlantischen Allianz heute gefährdeter denn je ist. Mit Trump droht die Gefahr des kühl kalkulierten Diktats. Er hat ein Auge für Schwächen und keine Hemmungen, diese bei Partnern auszunutzen. Der Begriff der Partnerschaft muss neu definiert werden. Seit Begründung der Nordatlantischen Allianz hat es vermutlich keinen anderen Zeitpunkt gegeben, zu dem die innere Kohäsion in der Allianz so gefährdet gewesen ist wie heute. Europa mag einen Platz am Verhandlungstisch einfordern. Doch das Gefecht um das Verhandlungsergebnis ist quasi schon geschlagen. 

Mit seiner Ankündigung, dass die Ukraine eine Mitgliedschaft in der Nordatlantischen Allianz vergessen könne, hat Trump einen diplomatischen Riesenfehler begangen, aber er hat zugleich auch das größte Problem, das einem Abschluss entgegensteht, beiseite geräumt. Die Stabilisierung der Ukraine wird für die Europäer eine Herkulesaufgabe werden. Wenn Selenskyj jetzt im Weißen Haus die Nerven verloren hat, sollte seine Performance auch den Europäern zu denken geben. Schon heute ist die Kritik an dem Präsidenten im eigenen Land unüberhörbar. 

Seit vergangener Woche ist er nun noch mehr zum Problem auf dem Weg zum Frieden geworden. Sein Auftritt zeigt auch, dass, wie auch immer das Resultat der Friedensverhandlungen aussehen wird, auf ukrainischer Seite Unzufriedenheit herrschen wird. Für die Europäische Union sind dies wenig günstige Voraussetzungen, von allen anderen geostrategischen Problemen in Europa ganz zu schweigen.

Trump kommt Putin gelegen

Wladimir Putin mag sich Trump als Präsident nicht gewünscht haben. Die gegenwärtigen Dissonanzen im transatlantischen Verhältnis kommen ihm wie gerufen. Trump wird ihm nicht nur ein Ende des Ukraine-Kriegs bescheren, das ihm ein Überleben möglich machen wird. Es stabilisiert ihn zunächst. Doch wie lange?

Auch wenn Putin wiederholt als lachender Dritter beschrieben wird, so ist er längst noch nicht am rettenden Ufer. Ähnlich wie in der Ukraine wird es auch in Russland nach dem Krieg Stimmen geben, die Fragen nach dem Preis des Friedens stellen werden. Sein Handlungsspielraum bleibt beschränkt. 

Die strategische Abkehr Europas von einer Partnerschaft mit Russland ist auf mittlere Sicht ebenso belastend wie die Position des Juniorpartners im russisch-chinesischen Verhältnis dem Kremlchef zu schaffen machen wird. Der jetzt auf Eis gelegte Rohstoffdeal zwischen den Vereinigten Staaten und der Ukraine zeigt einmal mehr, dass Trump für Putin nur punktuell von Nutzen sein kann und die strategische Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und Russland fortbesteht.

Weltsystem im Umbruch

Das Weltsystem ist nach 1945 und 1989 im Jahr 2025 erneut in einem grundlegenden Umbruch. Die Karten werden neu gemischt. So wie 1914 ein europäisches Zeitalter zu Ende ging und 1945 das bipolare System zweier außereuropäischer Supermächte entstand, die für lange Zeit den Weltzustand mit der pax atomica auf die Mächtekonstellation von 1945 eingefroren haben, so geht heute ein atlantisches Zeitalter zu Ende. 

Die Vereinigten Staaten mögen noch immer einen großen Anteil an der Welt von heute haben, die es einst als Ergebnis von zwei Weltkriegen geformt haben. Trump orientiert sich in seinem Denken an dieser Welt, in der sich sein Aufstieg als erfolgreicher Geschäftsmann weitgehend vollzogen hat. Er überträgt Methoden und Rezepte aus seinem beruflichen Leben auf eine neue Welt, deren Ordnung erst im Entstehen begriffen ist. Auch Putin, im Lebensalter näher an Trump an Selenskyj, kommt als einstiger KGB-Mann und Sowjetmensch aus der Zeit des Kalten Krieges. Er hat sich immer mehr an Josef Stalin als an Michail Gorbatschow orientiert.

Geht Europa als Verlierer vom Platz?

Europa läuft Gefahr, Verlierer des gegenwärtigen Ringens zu werden. Zum strategischen Problem der Zonen unterschiedlicher Sicherheit in Europa in Verbindung mit der unbewältigten Ukraine-Frage kommt das transatlantische Zerwürfnis und die Fortdauer des Containments von Russland als strategische Aufgabe hinzu. Es käme einem Wunder gleich, wenn es den Europäern gelänge, diese Aufgaben zugleich zu meistern und die dafür notwendige Einigkeit herzustellen.

Europa wird von seinen eigenen Worten, denen viel zu wenig Taten gefolgt sind, eingeholt. Zwar ist das Projekt der Europäischen Union von Anfang an ein politisches Projekt gewesen, doch die Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg führt, wenn sie nicht überwunden werden kann, auf Dauer zu Standortnachteilen. Darin ähnelt die Europäische Union Deutschland. Wenn sich alles neu sortiert, steht vieles zur Disposition. Der Traum von der Domestizierung von Macht durch Recht hat über lange Zeit das Vertrauen in die Heilkräfte der liberalen Ordnung begründet. Dieser Traum kann fortbestehen, doch ein guter Schuss Realismus ist notwendig. 

Das Weltsystem - einschließlich die Rolle und Wirksamkeit der Vereinten Nationen - wird sich nicht über Nacht ändern lassen. Regionale Mächte wie Saudi-Arabien und Türkiye werden aufgrund von strategischer Klugheit und geographischer Lage eine größere Rolle spielen. Die schwierigste Aufgabe und das größte Pensum indes bleibt den Mitgliedern der Europäischen Union vorbehalten. Sie müssen strategisch erwachsen werden und alles dafür tun, damit die sich vertiefende transatlantische Krise sich nicht zu einem dauerhaften Zerwürfnis auswächst. Dies alles auf einmal zu leisten, gleicht der Quadratur des Kreises. 

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