Nach den Bundestagswahlen ist Deutschland in eine neue Phase der politischen Stabilitätssuche eingetreten. Die Christlich Demokratische Union/Christlich-Soziale Union (CDU/CSU) wurde mit 28,5 Prozent der Stimmen stärkste Kraft, während die Alternative für Deutschland (AfD) mit 20,8 Prozent den zweiten Platz belegte. Dieses Ergebnis wurde als bislang stärkster Erfolg der AfD gewertet. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) hingegen erzielte mit 16,4 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte.
Nach rund sechs Wochen andauernder Verhandlungen einigten sich CDU/CSU und SPD auf die Bildung einer Großen Koalition. Es wird erwartet, dass CDU-Chef Friedrich Merz Anfang Mai zum Bundeskanzler gewählt wird.
Im Zentrum der Koalitionsvereinbarung steht das Ziel, die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben zu lockern und einen Sonderfonds in Höhe von 500 Milliarden Euro für Infrastrukturinvestitionen zu schaffen. Laut dem 160 Seiten starken Koalitionsvertrag soll die CDU/CSU zehn Ministerien erhalten, die SPD sieben.
Neue Regierung, alte Ängste
Nicht nur die Struktur der neuen Regierung, sondern auch das Kräfteverhältnis in der Opposition verändert sich. In einer Umfrage vom 9. April 2025 stieg die AfD auf 25 Prozent, während die CDU/CSU auf 24 Prozent fiel. Diese Entwicklung zeigt, dass sich die AfD von einer temporären Protestbewegung zu einem dauerhaften politischen Akteur entwickelt hat. Der Aufstieg der Partei wird insbesondere mit Themen wie Migration, Sicherheit und wirtschaftlicher Unsicherheit in Verbindung gebracht.
Während die AfD in Ostdeutschland besonders stark ist, gewinnt sie zunehmend auch in Westdeutschland an Zustimmung – was den Druck auf die Parteien der politischen Mitte erhöht. Dieses Problem unterstreicht auch Ulrich Schlie, Henry-Kissinger-Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bonn, in einem exklusiven Interview mit TRT Deutsch: „Der unverändert hohe Zuspruch, den die AfD auch aus Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien erfährt, ist eine große Herausforderung für den Wettbewerb der demokratischen Parteien. Er steigert den Druck, dass identifizierte Probleme auch tatsächlich gelöst werden und dass im politischen Wettbewerb die Unterscheidbarkeit der Parteien erhalten bleibt und somit für den Wähler echte Alternativen bestehen.“
Von der Merz-Regierung wird erwartet, dass sie im Vergleich zur Vorgängerregierung – der Ampel-Koalition – eine restriktivere Migrationspolitik verfolgt. In den Koalitionsverhandlungen wurde eine „Rückkehrungsoffensive“ für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan vereinbart, was mit Merz’ Ziel eines „Paradigmenwechsels“ in der Migrationspolitik übereinstimmt. Hier zeigt sich deutlich, dass die CDU/CSU ihre Positionen gegenüber der migrationsfreundlicheren SPD durchsetzen konnte. Auch Ulrich Brückner, Professor für Politikwissenschaft für European Studies am Berliner Center der Stanford University, sieht darin ein grundlegendes Dilemma und erklärte gegenüber TRT Deutsch: „Die CDU und CSU werden einerseits erpressbar für die SPD, wie die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen gezeigt haben. Gleichzeitig sind beide zum Erfolg verdammt, wenn sie einen Wahlsieg der AfD vermeiden wollen. Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Regierungszeit sind nicht besser geworden, aber es ist auch nicht vorgezeichnet, dass diese Koalition scheitert.“
Darüber hinaus plant die Regierung unter dem Schlagwort „Kampf gegen Islamismus“ sicherheitszentrierte Maßnahmen, die sich auf die muslimische Bevölkerung auswirken könnten. So soll im Bundesinnenministerium eine dauerhafte Struktur eingerichtet werden, die sich auf dieses Themenfeld konzentriert. Diese Vorgehensweise hat jedoch Befürchtungen geweckt, dass sie Diskriminierung gegenüber der muslimischen Gemeinschaft fördern könnte.
Tatsächlich wurden im Jahr 2023 in Deutschland 1.926 islamfeindliche Vorfälle registriert, darunter 88 Angriffe auf Moscheen. Diese Entwicklung zeigt, dass die CDU nach rechts rückt, um gesellschaftlichen Einfluss zurückzugewinnen – ein Vorgehen, das jedoch erhebliche Risiken für den sozialen Zusammenhalt und demokratische Grundwerte birgt.
Risse im transatlantischen Fundament
Mit der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus im Januar 2025 hat für die transatlantischen Beziehungen eine Phase neuer Ungewissheit begonnen. Für ein stark exportorientiertes Land wie Deutschland ist diese Entwicklung von strategischer Bedeutung. Laut Daten aus dem Jahr 2024 war die USA mit einem Handelsvolumen von 252,8 Milliarden Euro Deutschlands wichtigster Handelspartner und überholte damit China. Diese Entwicklung hat Berlins Bemühungen verstärkt, ein ausgewogeneres und funktionaleres Verhältnis zu Washington aufzubauen.
Trotz der anhaltend protektionistischen Haltung der Trump-Administration gegenüber China bleiben die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und Deutschland von Unsicherheit geprägt. Die CDU/CSU-SPD-Koalition betont daher die „herausragende Bedeutung“ der transatlantischen Partnerschaft und strebt eine enge Zusammenarbeit mit Nordamerika an. In diesem Rahmen will der designierte Bundeskanzler Merz in einem persönlichen Gespräch mit Trump ein neues Wirtschaftsmodell auf Basis einer „Nullzoll“-Politik vorschlagen.
Brückner lässt auch keine Zweifel daran, dass Merz die Beziehungen zu den USA so gut wie möglich pflegen wird: „Friedrich Merz ist von seiner Sozialisation und Berufserfahrung der transatlantischste Kanzler in der deutschen Geschichte. Er wird versuchen, die engen Beziehungen weiter aufrechtzuerhalten“, erklärte der Experte gegenüber TRT Deutsch. Dass Merz Europa zur Priorität erklärt, unterstreicht zudem, dass Deutschlands Interessen nicht nur bilateral mit den USA, sondern in enger Verflechtung mit der Einheit der EU zu sehen sind.
Auch Roland Bathon, freier Osteuropa- und Russlandjournalist, ist sich sicher, dass die kommende Bundesregierung trotz der Trump-Regierung versuchen wird, die guten Beziehungen zu den USA aufrechtzuerhalten: „Trotz aller Differenzen mit der Regierung Trump ist die grundsätzliche Einstellung gerade der CDU/CSU als größerem Koalitionspartner und Kanzlerpartei weiter transatlantisch ausgerichtet. So wird man versuchen, Schäden in den transatlantischen Beziehungen durch die gewachsenen politischen Differenzen zwischen Washington und Berlin zu minimieren“, erklärte Bathon gegenüber TRT Deutsch.
Zeitenwende ohne Sicherheit?
Nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs hat Deutschland einen Kurswechsel in der Verteidigungspolitik vollzogen und plant, das vom derzeitigen Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigte Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro fortzuführen. Der Koalitionsvertrag sieht eine stärkere Rolle Deutschlands in der NATO sowie erhöhte Verteidigungsausgaben vor – bei gleichzeitiger fortbestehender Verpflichtung zu Abrüstungsprinzipien. Die langfristige militärische, politische und humanitäre Unterstützung der Ukraine, eine realistische NATO-Beitrittsperspektive sowie Hilfe beim Wiederaufbau gehören zu den zentralen Zielen der deutschen Außenpolitik.
Die Unterstützung für die Ukraine werde sich unter der kommenden Merz-Regierung sogar intensivieren, ist sich Politikexperte Brückner sicher: „Rhetorisch ist Merz ein entschlossenerer Unterstützer der Ukraine. Praktisch wird der Preis dieser Haltung höher sein als für Scholz. Deutschland rüstet auf, weil es sich nicht mehr auf Abschreckung durch die USA verlassen kann.“
Doch die Koalitionsparteien sind sich hinsichtlich der Ukraine-Politik nicht vollständig einig. Es gibt sehr wohl Stimmen, die auf Dialog statt Konfrontation setzen. „Sowohl in der SPD als auch in der CDU gibt es Kräfte, die sich einen stärkeren Fokus auf Verhandlungen mit Russland wünschen – in der SPD etwa bei Vertretern der traditionellen Ostpolitik, in der CDU in den neuen Bundesländern. Sie werden lauter, dringen aber noch nicht bis in die eigenen Führungsetagen durch“, stellt der freie Journalist Bathon gegenüber TRT Deutsch fest.
Diese Ambitionen stehen jedoch vor großen Herausforderungen: strukturelle Defizite in der Bundeswehr, wirtschaftliche Stagnation, Energiekrise und die globale Unsicherheit nach Trumps Wiederwahl erschweren die Umsetzung. Diese Fragilität betrifft nicht nur Deutschland selbst, sondern auch ein durch den Ukraine-Krieg, Migration und die Nachwirkungen des Brexits geschwächtes Europa. Deutschlands sicherheitspolitische Ausrichtung könnte für den gesamten Kontinent richtungsweisend sein – doch unter den aktuellen Rahmenbedingungen erscheint der Handlungsspielraum begrenzt.
Auch der Politologe Schlie ist sich sicher, dass die Bundesregierung gemeinsam mit der Europäischen Union langfristig ihre eigene Sicherheit gewährleisten muss: „Sie (die EU) muss ihre Anstrengungen steigern, damit es in der Ukraine nach einem Waffenstillstand nicht zu großen Enttäuschungen kommt. Wir können es uns nicht leisten, dass Zonen unterschiedlicher Sicherheit in Europa entstehen. Russland bleibt die große sicherheitspolitische Herausforderung, die nur durch eine starke Landesverteidigung als Bündnisverteidigung bewältigt werden kann.“
Türkiye – Faktor der Stabilität?
In der deutschen Außenpolitik wird Türkiye nicht nur wegen ihrer geografischen Nähe, sondern vor allem aufgrund seiner Rolle in der NATO, seiner militärischen Kapazitäten und seiner regionalen Einflussnahme als strategischer Partner betrachtet. Als zweitgrößte Militärmacht innerhalb des Bündnisses nach den USA ist Türkiye für Berlin insbesondere in Fragen wie Migration, Terrorbekämpfung und regionaler Stabilität ein bedeutender Kooperationspartner. Seine Rolle in der Syrienkrise sowie ihr potenzieller Einfluss auf die Rückführung syrischer Geflüchteter aus Deutschland rücken Ankara noch stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Die Äußerungen von Friedrich Merz deuten auf eine realistischere und stärker geopolitisch ausgerichtete Linie in den Beziehungen zu Türkiye hin. Merz betont, dass Türkiye nicht nur militärisch, sondern auch im Rahmen der europäischen Sicherheitsarchitektur ein unverzichtbarer Akteur sei. Insbesondere im Kontext des Ukrainekriegs und der Instabilität im Nahen Osten unterstreicht er die Notwendigkeit eines strategischen Dialogs mit Ankara. Auch beim Wiederaufbau Syriens wird eine engere Zusammenarbeit mit Türkiye angestrebt.
Schlie sieht Türkiye in einer Schlüsselrolle und als wichtigen Partner für Deutschland in der kommenden Zukunft: „Türkiye spielt als Regionalmacht in der neuen weltpolitischen Konstellation eine noch größere Rolle. Die deutsche Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie sich auf allen Ebenen um eine Intensivierung des Verhältnisses zu Türkiye bemühen würde, um in einen echten Dialog mit dem aufsteigenden Land einzutreten“, erklärte der Politologe gegenüber TRT Deutsch.
Dieser Ansatz spiegelt sich auch im Koalitionsvertrag wider, auf den sich CDU/CSU und SPD verständigt haben. Darin wird Türkiye als „strategischer Partner innerhalb der NATO, Nachbar der EU und einflussreicher Akteur im Nahen Osten“ beschrieben. Es wird betont, dass in zahlreichen Bereichen – von Migration bis Sicherheit – eine enge Zusammenarbeit erforderlich sei. Themen wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit werden zwar weiterhin thematisiert, jedoch nicht mehr als Vorbedingungen für die bilateralen Beziehungen, sondern als langfristige Zielsetzungen verstanden. Dies verdeutlicht, dass Berlin eine pragmatischere und interessengeleitete Linie verfolgt.
Brückner unterstrich gegenüber TRT Deutsch, dass die kommende Bundesregierung der Linie des Pragmatismus folgen werde und auf vergangene Strategien zurückgreifen dürfte: „Vermutlich setzt sich die Merkel-Linie weiter fort: Ablehnung einer Mitgliedschaft in der EU und Pflege guter Beziehungen im Wissen um die Bedeutung von Türkiye als strategischer Partner.“
Darüber hinaus misst Merz der politischen Teilhabe der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland große Bedeutung bei und betont das Ziel der CDU, stärkere Verbindungen zu dieser Gemeinschaft aufzubauen. Die Präsenz türkischstämmiger Abgeordneter und das geplante Netzwerk zur Neuordnung der Integrationspolitik zeigen, dass Türkiye und die türkische Diaspora zunehmend in einem gemeinsamen außen- und innenpolitischen Kontext gedacht werden.
Zwischen Zerreißprobe und Zeitenwende
Deutschland ist im Jahr 2025 nicht nur mit einer neuen Regierung, sondern auch mit einem von vielschichtigen Krisen geprägten Übergangsprozess konfrontiert. Die unter Merz geführte Koalition sieht sich Herausforderungen wie der Erosion der politischen Mitte, wirtschaftlicher Schwäche und zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung gegenüber. Der Aufstieg der AfD ist der sichtbarste Ausdruck dieser Krise. Die Annäherung der bürgerlichen Mitte an die AfD mag kurzfristig ein strategisches Kalkül sein – aus demokratietheoretischer Perspektive jedoch birgt sie erhebliche Risiken.
Auch außenpolitisch ist Deutschland mit Spannungen konfrontiert. Mit der Rückkehr Trumps ins Präsidentenamt sind die transatlantischen Beziehungen von neuer Unsicherheit geprägt, und die Diskrepanz zwischen Berlins wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und seinen außenpolitischen Ambitionen tritt deutlicher zutage. In diesem Kontext gewinnt eine strategische Partnerschaft mit Türkiye weiter an Bedeutung. Die Rolle von Türkiye innerhalb der NATO sowie in Migrations- und Sicherheitsfragen ist für Deutschland inzwischen unverzichtbar geworden. Die positiven Signale von Merz gegenüber Ankara deuten zwar auf einen konstruktiven Neuanfang hin, doch bleibt abzuwarten, wie sich diese Rhetorik in der Praxis niederschlagen wird.
Letztlich muss die Merz-Regierung nicht nur die Koalitionsdynamik austarieren, sondern zugleich Deutschlands innere Stabilität und Europas Sicherheit gewährleisten. Der Erfolg dieser Zielsetzungen hängt jedoch nicht allein vom politischen Willen ab, sondern auch von gesellschaftlichem Zusammenhalt, wirtschaftlichem Gleichgewicht und der Qualität internationaler Partnerschaften. In diesem Zusammenhang dürfte eine konstruktive Zusammenarbeit mit Türkiye zu einem der wichtigsten strategischen Hebel Berlins in den kommenden Jahren werden.