Die Einstufung der AfD durch den Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ hat eine weitreichende Debatte darüber intensiviert, was politisch und gesellschaftlich los ist in Deutschland. Sie wirft die grundlegende Frage auf: Wie resilient ist die deutsche Demokratie gegenüber rechtsextremen und rechtsradikalen Bedrohungen?
Darauf gibt es keine einfache Antwort und auch keine klare Prognose. Vielmehr hängt die Widerstandsfähigkeit vom Zusammenspiel staatlicher, gesellschaftlicher und institutioneller Kräfte ab – und von der Erkenntnis, dass Deutschland zwar über vielfältige und starke Abwehrmechanismen verfügt, ob diese aber ausreichen und richtig eingesetzt werden, ist nicht garantiert.
Rechtsextrem vs. rechtsradikal: Warum die Unterscheidung zählt
Der Verfassungsschutz unterscheidet zwischen rechtsextremen Gruppen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung abschaffen wollen, und rechtsradikalen Strömungen, die völkisch-nationale, autoritäre oder diskriminierende Positionen vertreten, ohne die im Grundgesetz garantierte Ordnung offen zu bekämpfen.
Während Rechtsextremismus eine existenzielle Bedrohung darstellt, zeigt Rechtsradikalismus, wie schleichend demokratiefeindliche Narrative in den gesellschaftlichen Diskurs einsickern. Beide Phänomene bedrohen den Kern des Grundgesetzes – auf unterschiedliche Weise.
Die Zahlen sprechen eine alarmierende Sprache
Die Zahl politisch motivierter Straftaten ist im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Wie der neue Bundesinnenminister Dobrindt am 20. Mai 2025 mitteilte, haben die Polizeibehörden von Bund und Ländern 2024 über 84.000 Taten registriert. Das sind gut 40 Prozent mehr als 2023. Dieser Trend einer Zunahme rechtsextremer Gewalt setzt sich bedenklich fort – insbesondere Übergriffe auf Politiker, Geflüchtete und Minderheiten nehmen zu.
Diese Statistik unterstreicht nicht nur die Dominanz rechter Gewalt, sondern auch ihre strukturelle Verankerung. Rechtsextreme Gewalt zielt auf Einschüchterung, rechtsradikale Rhetorik auf die Normalisierung von Menschenfeindlichkeit. Beides destabilisiert den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Staatliche Resilienz: Die „wehrhafte Demokratie“ in Aktion
Deutschlands Verfassung sieht für solche Herausforderungen klare Abwehrmechanismen vor – von Parteiverbotsverfahren über das Vereinsrecht bis zum Einsatz des Verfassungsschutzes. Doch die Wehrhaftigkeit zeigt sich nicht nur in Verboten. Sie manifestiert sich in der strikten Anwendung des Strafrechts: Im Jahr 2023 wurden über 90 Prozent der rechtsextremen Gewalttaten juristisch verfolgt und zahlreiche Organisationen und Gruppierungen verboten.
Gleichzeitig setzt der Staat auf präventive Maßnahmen im Bereich der Politischen Bildung. Bundesweit finden jährlich über 50.000 Workshops, Schulprojekte, Vorträge und Fortbildungen zur Extremismusprävention statt. Die finanzielle Ausstattung der Bundeszentrale für politische Bildung wurde in den vergangenen Jahren deutlich erhöht, und Programme wie „Demokratie leben!“ unterstützen zivilgesellschaftliche Initiativen mit 165 Mio. Euro pro Jahr.
Auch die Nachfrage nach Vorträgen und Fachveranstaltungen ist deutlich gestiegen. Landeszentralen, politische Stiftungen und zahlreiche kommunale und private Initiativen liefern ein breit gefächertes, kreatives und oft auch beindruckend anspruchsvolles Angebot für unterschiedliche Zielgruppen. Sie erreichen aber nicht alle Teile der Gesellschaft und haben Radikalisierungstendenzen in Sozialen Medien wenig entgegenzusetzen.
Daher bleibt die Politik gefordert: Die Entscheidung des Bundesinnenministers, trotz der Einstufung der AfD kein Verbotsverfahren einzuleiten, offenbart die Grenzen staatlichen Handelns. Ein Verbot allein wäre weder eine Lösung des tiefergehenden Problems, noch wäre es zwangsläufig erfolgreich. Dennoch ist die Debatte über ein Verbot wichtig und richtig, denn sie trägt zur Aufklärung und Sensibilisierung bei, benennt Probleme, entlarvt verfassungsfeindliche Positionen und stärkt das demokratische Bewusstsein. Und darauf kommt es Letzten Endes an.
Gesellschaftliche Verantwortung: „Frag nicht, was dein Staat für dich tut …“
John F. Kennedys berühmter Satz gilt heute mehr denn je: Demokratie lebt vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. In Deutschland zeigt sich dies in einer bunten und vielfältig engagierten Zivilgesellschaft:
Zivilgesellschaftliche Bündnisse: Aktuell gibt es mehr als 1.200 lokale Bündnisse gegen Rechts, von „Aufstehen gegen Rassismus“ bis zu „Omas gegen rechts“, die Demonstrationen, Beratungsangebote und Solidaritätsaktionen organisieren.
Medien und Kultur: Anders als in vielen anderen Ländern gibt es in Deutschland Qualitätsmedien und ein vielfältiges Informationsangebot. Formate wie der „Verfassungspodcast“ des Bundespräsidenten, der „Verfassungsblog“ für Fachleute oder Sendungen wie „Jetzt mal konkret“ (ZDF) erreichen Millionen und entzaubern rechtspopulistische Parolen und Kommunikationsstrategien.
Wirtschaft: Konzerne wie Volkswagen oder Siemens schulen ihr Personal im Umgang mit antidemokratischen Äußerungen und unterstützen Initiativen wie die „Aktion Courage“. Viele Klein- und Mittelständler beziehen politisch Stellung, nicht zuletzt, weil sie auf eine offene Gesellschaft angewiesen sind, um ihren Fachkräftebedarf zu decken.
Doch dieses Engagement stößt an Grenzen. Rechtsextreme Netzwerke infiltrieren Vereine, Feuerwehren und Sicherheitsbehörden. Rechtsradikale Parteien nutzen Parlamente als Bühnen für ihre Propaganda und versuchen staatliche Institutionen zu delegitimieren. Hier braucht es eine Gesellschaft, die nicht nur reagiert, sondern proaktiv Räume der Begegnung schafft – etwa durch kommunale Dialogforen oder interkulturelle Projekte. Und es braucht Menschen, die widersprechen, wenn die Grenze des Sagbaren schrittweise verschoben und Diskriminierung als freie Meinungsäußerung ausgegeben wird.
Institutionelle Stärke: Mehr als „Brandmauern“
Die „Brandmauer“ der demokratischen Parteien ist ein wichtiges Symbol, aber kein Allheilmittel. Resilienz entsteht durch institutionelle Vernetzung:
Parlamente: Untersuchungsausschüsse wie zum NSU-Komplex oder zum „Reichsbürger“-Anschlag in Halle dokumentieren Versäumnisse und darüber lassen sich Gegenstrategien entwickeln.
Bildungseinrichtungen: Allein die Bundeszentrale für politische Bildung erreicht mit über 3 Mio. Publikationen jährlich Schulen, Universitäten und Bürgergruppen. Darüber hinaus gibt es Landeszentralen, Akademien und Stiftungen mit einem vielfältigen Angebot.
Justiz: Sonderstaatsanwaltschaften für Hasskriminalität und Antidiskriminierungsgesetze arbeiten mit rechtsstaatlichen Mitteln und machen deutlich, dass „Hass keine Meinung“ ist, sondern ein Straftatbestand.
Lokale Initiativen: Projekte wie „Kein Ort für Nazis“ in Sachsen oder „Recht gegen Rechts“ in Thüringen verbinden juristische Beratung mit öffentlichem Druck.
Deutschlands Widerspruch: Hohes Problembewusstsein, anhaltende Vulnerabilität
Deutschlands einzigartige Erinnerungskultur – Gedenkstätten, Mahnmale, Zeitzeugenprogramme – schärft das Bewusstsein für die Gefahren des Extremismus. Doch dieses Wissen allein schützt nicht. Die AfD sitzt in allen Landesparlamenten, rechtsextreme Chatgruppen in Polizei und Bundeswehr verdeutlichen strukturelle Schwächen, und die zunehmende Verrohung der Debattenkultur zeigt: Resilienz ist kein Dauerzustand, sondern ein Prozess.
Fazit: Wehrhaftigkeit braucht alle
Deutschland ist besser gerüstet als viele Länder, um rechtsextremen Bedrohungen zu begegnen. Die Stärke liegt im Zusammenspiel von Erinnerungskultur, staatlicher Entschlossenheit, gesellschaftlicher Wachsamkeit und institutioneller Lernfähigkeit. Doch diese Wehrhaftigkeit ist nicht selbstverständlich. Sie erfordert, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme erheben, wenn Menschenrechte infrage gestellt werden; dass Medien komplexe Sachverhalte nicht in einfache Gegensätze pressen; und dass der Staat konsequent handelt – nicht nur mit Verboten, sondern durch Investitionen in Bildung, Integration und soziale Gerechtigkeit.
Die aktuelle AfD-Debatte zeigt eines: Eine lebendige Demokratie lebt vom Streit um ihre Werte. Dieser Streit muss geführt werden – in Parlamenten, auf Straßen und an Küchentischen. Denn am Ende entscheidet nicht die Existenz rechtsextremer Gruppen über den Zustand der Demokratie, sondern die Entschlossenheit der Mehrheit, ihre Werte und Errungenschaften zu verteidigen.