POLITIK
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Die tapfere neue Welt: Türkiye und die EU
Europa braucht Türkiye – doch alte Arroganz und doppelte Standards stehen einer echten Partnerschaft im Weg. Wenn der Kontinent sicher bleiben will, muss er geopolitisch umdenken.
Die tapfere neue Welt: Türkiye und die EU
Die tapfere neue Welt: Türkiye und die EU. / Foto: AA / Anadolu Agency
29. Mai 2025

Mit dem Amtsantritt von Donald Trump kam es in der internationalen Ordnung zu einem regelrechten geopolitischen Beben. In der Folge durchläuft das internationale System einen tiefgreifenden Wandel. Einige Beobachter sprechen von einem Übergang zu einer multipolaren Weltordnung, andere wiederum von einer multizentrischen Welt. Eines jedoch ist klar: Wir leben in einer neuen Welt, in einem neuen internationalen System. Wie sich dieses System in Zukunft entwickeln wird, entscheidet sich voraussichtlich in den kommenden zehn Jahren im Rahmen von Verhandlungen, Machtkämpfen und Kompromissen zwischen den Großmächten.

Das Verhalten der USA unter Trump lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass die Vereinigten Staaten erkannt haben, ihre hegemoniale Stellung nicht länger aufrechterhalten zu können – oder aber, dass sie durch eine neue Positionierung versuchen, diese Hegemonie zu sichern. Nach seinem Amtsantritt setzte Trump die Beziehungen der USA zu nahezu allen Verbündeten und internationalen Akteuren zurück und definierte sie im Rahmen seiner eigenen Großstrategie neu. Diese radikale Neuausrichtung hatte weitreichende Auswirkungen auf die internationale Politik.

„America First“ statt Weltpolizei

Trumps neue Linie zeigte sich in seinen Forderungen an Kanada, im Streit um den Panamakanal, bei der Grönland-Frage, in seinen Äußerungen zur NATO, im Ukraine-Russland-Krieg, in seiner Haltung zum Nahen Osten sowie in den kühlen Botschaften an Israel. Wie allgemein bekannt ist, beruhen außenpolitische Entscheidungen auf nationalen Interessen. Doch wie diese Interessen definiert werden, ist in der Disziplin der internationalen Beziehungen umstritten. Es wird argumentiert, dass nationale Interessen nicht gegeben, sondern durch Identitäten und Werte bestimmt seien – und sich somit mit veränderten Identitäten auch die Interessen verändern.

Wie wir sehen, hat Trump nach seiner Machtübernahme die Interessen der USA gemäß seiner Weltanschauung und Ideologie neu definiert. Ziel war es, Amerika wieder groß zu machen – unter dem Motto „America First“. Demnach sollen bei der US-Außenpolitik materielle und geopolitische Interessen im Vordergrund stehen, während Interventionen zur Förderung von Demokratie, Menschenrechten oder Regimewechseln abgelehnt werden. Für Trump soll die USA nur dann militärische Gewalt einsetzen, wenn eine direkte Bedrohung für das Land besteht. In allen anderen Fällen sollen wirtschaftliche Sanktionen, regionale Machtausgleiche und andere Instrumente zur Zielverfolgung eingesetzt werden.

Besonders deutlich wurde Trumps neue Haltung in der US-Europapolitik. Seine Aussagen zur NATO sorgten in Europa für große Unruhe. Trump erklärte, Europa könne in Sicherheitsfragen nicht mehr auf die USA zählen und müsse selbst Verantwortung übernehmen. Diese Aussagen erschütterten das Fundament der NATO, deren Glaubwürdigkeit wesentlich auf Artikel 5 beruht – dem Versprechen, dass ein Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf alle gilt. Wird jedoch an der Anwendbarkeit dieses Artikels gezweifelt, leidet die Abschreckungskraft des Bündnisses erheblich.

Warum Europas Sicherheit eine neue Architektur braucht

Zwar existiert die NATO formal weiterhin, doch wie Emmanuel Macron einst sagte, scheint sie hirntot zu sein. Was aber kommt an ihre Stelle? Die USA betrachten die NATO zunehmend als Last und denken offenbar über eine Zukunft ohne sie nach. Für die europäischen Staaten hingegen ist es nahezu unmöglich, ihre Sicherheit ohne eine NATO-ähnliche Struktur zu gewährleisten – angesichts der aktuellen Bedrohungen ist das mehr als offensichtlich.

Daher ist der Aufbau einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur keine Luxusfrage, sondern eine überlebenswichtige Notwendigkeit. Bei jeder Diskussion über eine solche Architektur kommt man unweigerlich auf Türkiye zu sprechen – ein geopolitisch zentraler Akteur. Die Einbindung von Türkiye in diese neue Ordnung ist sowohl für Europa als auch für Türkiye unabdingbar. Denn ein erstarkendes Russland stellt – sowohl historisch als auch in der aktuellen Lage – eine ernsthafte Bedrohung für beide Seiten dar.

Rational betrachtet ist die Lage eindeutig. Doch aufgrund historischer Spannungen in den türkisch-europäischen Beziehungen droht eine strategisch notwendige Kooperation an alten Konflikten zu scheitern.

Warum Europa Ankara dringender braucht als umgekehrt

Betrachten wir zunächst die Position von Türkiye: In einer Welt, in der die NATO zunehmend funktionslos erscheint, ist es für Türkiye zwar äußerst schwierig, aber nicht unmöglich, seine Sicherheit eigenständig zu gewährleisten. Warum das so ist, lässt sich erklären: In den letzten 15 Jahren hat Türkiye in Syrien mit unterschiedlichsten Akteuren um Einfluss gerungen – oftmals ohne Rückhalt durch ihre Verbündeten. Allein kämpfte Ankara gegen Russland, Iran und weitere Kräfte. Diese Isolation zwang Türkiye dazu, seine strategische Autonomie zu entwickeln. Deutlich sichtbar wird dies am enormen Fortschritt in der türkischen Verteidigungsindustrie.

In den nächsten zehn Jahren dürften zahlreiche Projekte abgeschlossen werden, die Türkiye Unabhängigkeit in allen kritischen Bereichen – Land-, Luft- und Seestreitkräfte – sichern. Türkische Streitkräfte haben in den letzten 15 Jahren in allen Einsatzgebieten – etwa in Libyen, Somalia, Sudan, Syrien, Aserbaidschan, Irak und sogar in Katar – militärisch erfolgreich agiert. Eine sicherheitspolitische Kooperation mit Europa wäre aus türkischer Sicht wünschenswert, doch ist Türkiye grundsätzlich auch in der Lage, seinen Weg allein zu gehen. Schließlich verfügt Ankara – nach den USA – über die größte Armee innerhalb Europas: professionell, einsatzbereit und kampferprobt.

Aus europäischer Sicht hingegen ist eine Sicherheitsarchitektur ohne Türkiye schwer vorstellbar. Europa könnte zwar formal einen eigenständigen Weg einschlagen, doch würde dies insbesondere im Umgang mit Russland zu enormen Herausforderungen führen. Die europäischen Armeen müssten modernisiert und auf Kriegsfähigkeit getrimmt werden – ein Prozess, der mindestens zehn Jahre in Anspruch nehmen dürfte. Und selbst dann wäre eine Sicherheitsordnung ohne Türkiye unvollständig und kaum in der Lage, Russland effektiv einzudämmen.

Ohne Augenhöhe keine Sicherheit

Es ist also klar: Für beide Seiten ist eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit rational und notwendig. Doch es gibt Hindernisse. Das erste ist die historisch gewachsene, eurozentrische und überhebliche Haltung Europas gegenüber Türkiye. In der heutigen Welt muss diese Denkweise überwunden werden. Europa muss lernen, Türkiye auf Augenhöhe zu begegnen.

Das zweite Hindernis sind die ideologisch aufgeladenen Narrative Europas, die angeblich universellen Werte in den Mittelpunkt stellen. Doch angesichts der Ereignisse in Gaza und der offensichtlichen Doppelmoral verliert dieses Wertesystem zunehmend an Glaubwürdigkeit. Europa muss seine islamophoben, eurozentristischen und psychologischen Barrieren überwinden und – unter Berücksichtigung geopolitischer Notwendigkeiten – eine rationale Partnerschaft mit Türkiye eingehen. Dies ist eine der entscheidenden Fragen für die Zukunft Europas.

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