POLITIK
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Was bringt der neue Koalitionsvertrag?
Der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD steht – er kommt aber in einer Zeit globaler Umwälzungen. Zudem herrscht offensichtlich ein Vertrauensproblem. Ob sich die Koalition dennoch bewährt, wird sich zeigen.
Was bringt der neue Koalitionsvertrag?
Was bringt der neue Koalitionsvertrag? / Foto: Kay Nietfeld/dpa
14. April 2025

Koalitionsverträge haben in Deutschland in den vergangenen Jahren eine fast mythische Bedeutung erlangt. Sie sind im Laufe der Jahre im Umfang von zunächst einem knappen Dutzend Seiten auf weit mehr als 100 Seiten angewachsen. Sie sind eine Art Forderungskatalog, ein Sammelsurium an Wahlversprechen und aus den Wahlprogrammen entlehnter Sprache, die vor allem für die eigene Klientel nachweisen soll, dass sich die jeweilige Seite durchgesetzt hat.

Die Ampelregierung von 2021 hat auch in dieser Hinsicht mit einem Negativbeispiel Maßstäbe gesetzt. Denn schon zum Zeitpunkt des Abschlusses hat der damalige Koalitionsvertrag in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht die politische Wirklichkeit jener Jahre widergespiegelt. Spätestens mit der völkerrechtswidrigen Invasion des russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Ukraine war er Makulatur.

Gemessen am Umfang früherer Koalitionsverträge hält sich das jetzt zwischen CDU/CSU und SPD abgeschlossene Dokument im vertretbaren Rahmen von 144 Seiten, gewissermaßen im Mittelfeld. Auch diesem Dokument merkt man das Misstrauen der Partner an, die sich nicht in einer Liebesheirat miteinander verbunden haben. Die Systematik leidet an vielen Stellen des Katalogs.

Auf neun Zeilen zu den Befugnissen der Ermittlungsbehörden folgen zwei Zeilen zur ergebnisoffenen Evaluierung des Gesetzes von Cannabis, dann kommen mehrere Zeilen zum Strafrecht und zur Umweltkriminalität, zur strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, zum Cyberstrafrecht und zwischen sechs Zeilen zu den antisemitischen Straftaten und einer Zeile zur Bekämpfung von illegalem Glücksspiel findet sich ein Bekenntnissatz zum Völkerrecht, der eigentlich in den außenpolitischen Teil gehört hätte: „Wir wollen ein starkes Zeichen für das Völkerrecht und gegen Aggression setzen, und die bestehende Zuständigkeitslücke zum Verbrechen der Aggression im Statut des Internationalen Strafgesetzhofs schließen.“

Völkerrecht und Rechtsordnung bedroht wie noch nie

Das Völkerrecht, die Rechtsordnung des Verkehrs der Staaten untereinander und das Bewusstsein, in einer Schicksalsgemeinschaft der Erdenbürger miteinander verbunden zu sein und daraus Verantwortung für eine bessere, gerechtere und friedlichere Welt zu übernehmen, ist durch die Machtrivalitäten der Gegenwart, durch die Versuche Putins, mit militärischer Gewalt die Welt zu verändern, und von US-Präsident Donald Trump mit seiner jüngsten Attacke gegen das Welthandelssystem heute so bedroht wie noch nie.

Den außen- und sicherheitspolitischen Teil setzt die neue Koalition unter die Prämisse, dass zur Bewahrung des Friedens Deutschland der Verantwortung zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit gerecht werden müsse. Eine gestaltende Außen- und Sicherheitspolitik in Zeiten einer historischen Umbruchsituation hätte eigentlich von einem anderen Ansatzpunkt, von den Grundprinzipien der äußeren Sicherheit, den nationalen Interessen und der strategischen Analyse der Welt der Gegenwart ausgehen müssen.

Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik bewegt sich der Koalitionsvertrag im Bekenntnishaften. Er enthält unter der Überschrift „Kohärenz im Außenhandeln“ das Bekenntnis zur Fortentwicklung des Bundessicherheitsrates zu einem „Nationalen Sicherheitsrat im Bundeskanzleramt“, dem die Koordinierung der wesentlichen Fragen einer integrierten Sicherheitspolitik, der Strategieentwicklung, der gemeinsamen Lagebewertung und der gemeinsamen politischen Willensbildung zugeschrieben wird.

Vernünftig ist die Forderung nach einem nationalen Krisenstab und einem nationalen Lagezentrum im Bundeskanzleramt, doch es bleibt völlig offen, wie dieses Gremium arbeiten soll und wie es mit der bestehenden sicherheitspolitischen Struktur des Bundeskanzleramtes harmonieren soll. Ist es auch für die Koordinierung der Nachrichtendienste zuständig? Leitet es ein Staatssekretär? Kann es auf der Ebene des Sicherheitskabinetts zusammenfinden? Mit welchem Personal soll es bestückt werden? In welchem Verhältnis steht der Geschäftsführer dieses auszubauenden Bundessicherheitsrates zum außen- und sicherheitspolitischen Berater des Bundeskanzlers?

Unterschiedliche Auffassungen bei sicherheitspolitischen Fragen

Im Vergleich mit früheren Koalitionsverträgen fällt der Bundeswehrteil dieses Mal stark im Bekenntnishaften auf. Die „freiwillige Wehrpflicht“ ist einer der Kompromisse, die gefunden werden mussten und der zeigt, dass die Koalitionspartner in einer grundlegenden sicherheitspolitischen Frage unterschiedlicher Auffassung sind. Das Bekenntnis zu einer strategisch ausgerichteten Rüstungspolitik lässt die Schlussfolgerung zu, dass diese in der Vergangenheit nicht bestanden hat, stellt aber, wie beim Bundeswehrteil überhaupt, die nicht beantwortete Frage nach den strategischen Grundlagen der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik.

Der außenpolitische Teil bewegt sich im Rahmen der üblichen Bekenntnisse der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Allenfalls Nuancen werden hier in einzelnen geographischen Teilen der Welt bemerkt werden. Das Vereinigte Königreich rangiert prominent nach Kanada und den Vereinigten Staaten, gefolgt von Israel, Türkiye und den Ländern des Globalen Südens.

Auffällig ist, und dies wird in Paris bemerkt werden, dass im außen- und sicherheitspolitischen Teil kein Hinweis auf eine Stärkung des deutsch-französischen Verhältnisses enthalten ist, wo doch gerade auf diesem Feld der größte Nachholbedarf existiert und strategisch die größte außenpolitische Priorität liegen müsste. Die im Kapitel über Europa enthaltene Bemerkung zur deutsch-französischen Freundschaft und die sich daran anschließenden Formulierungen über das Weimarer Dreieck und die Formel „Weimar Plus“ können dies nicht ersetzen. Auch dem europapolitischen Teil sind keine grundsätzlich neuen Gedanken zu entnehmen.

Die Erweiterung ist gewiss, wie es der Koalitionsvertrag zutreffend beschreibt, eine geopolitische Notwendigkeit. Es wird aber offengelassen, dass mit den bestehenden Strukturen der Anspruchsrahmen „EU in der Welt“ nicht mehr erfüllt werden kann. Das Bekenntnis zu einer umfassenden strategischen Souveränität Europas und einem echten Binnenmarkt für Verteidigungsgüter mit gemeinsamen Exportregeln und bei Planung, Entwicklung und Beschaffung lässt hoffen.

Strategische Bedeutung Ankaras wird im Koalitionsvertrag gewürdigt

Die strategische Bedeutung Ankaras wird an mehreren Stellen des Koalitionsvertrages gewürdigt, enthält allerdings im EU-Teil den wertenden Zusatz des Bedauerns, „dass sich die Türkei von der Werteordnung der EU zunehmend weiter entfernt.“

Detailliert sind auch in diesem Koalitionsvertrag die Arbeitsweisen der Bundesregierung, die Kooperation mit den Fraktionen, das Konsensprinzip in Verfahrenssachen und Personalfragen, die monatlichen Zusammenkünfte im einvernehmlich besetzten Koalitionsausschuss geregelt. Dieser in der Verfassung nicht vorgesehene Koalitionsausschuss berät Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung, die von den Koalitionspartnern abgestimmt werden und hat die Aufgabe, in Konfliktfällen Konsens herbeizuführen.

Es ist eine deutsche Besonderheit, dass auf diese Weise die Partei- und Fraktionsvorsitzenden und die Regierung tragenden politischen Gruppierungen in die Regierungsarbeit eingebunden sind. Bemerkenswert und klug ist die Absicht der Koalitionspartner, die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags reformieren zu wollen und eine Wahlrechtskommission zur Evaluierung und Änderung des gerade erst veränderten Wahlrechts einzusetzen. Auch hier zeigt sich im deutschen System die enge Zusammenarbeit zwischen Exekutive und Legislative.

Innovativ und vorwärtsblickend sind die Absichtserklärungen zur Weiterentwicklung des Wahlrechts zum Europäischen Parlament mit der Einführung einer Sperrklausel bei Europawahlen und der Anwendung des Auswahlverfahrens nach d’Hondt. Der Koalitionsvertrag enthält zudem ein Bekenntnis zur Stärkung der europapolitischen Koordinierung, die aber nicht mehr, wie vor 1998, im Auswärtigen Amt koordiniert worden ist.

Auf die neue Bundesregierung warten große Aufgaben. Viel ist gewonnen, wenn ein realistischer Blick, Pragmatismus und der Wille zur gemeinsamen Gestaltung die neuen Partner verbinden. Der jetzt abgeschlossene Koalitionsvertrag ist eine Grundlage. Die eigentlichen Herausforderungen für diese Bundesregierung werden die weiter bevorstehenden dramatischen weltpolitischen Veränderungen bringen. Erst damit wird die Koalition ihre Bewährungsprobe erhalten.

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