GESELLSCHAFT
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Was wir aus dem Amoklauf von Graz lernen sollten
Die Ereignisse von Graz erinnern uns daran, wie stark gesellschaftlicher Zusammenhalt in schweren Zeiten sein kann und wie wichtig zugleich gut durchdachte Gesetze und frühzeitige Prävention für die Sicherheit in offenen Gesellschaften bleiben.
Was wir aus dem Amoklauf von Graz lernen sollten
Was wir aus dem Amoklauf von Graz lernen sollten. / Foto: Reuters
16. Juni 2025

Was sich am Dienstagmorgen in Graz ereignete, erschüttert zutiefst. Dass eine Schule, ein Ort des Lernens und der Hoffnung, zum Schauplatz eines Amoklaufs wird, ist kaum in Worte zu fassen. Zehn Menschen, Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren sowie eine Lehrerin, wurden in der Schule brutal aus dem Leben gerissen. Mein tiefstes Mitgefühl gilt den Familien der Opfer, den Freunden, Lehrkräften und allen Menschen in Graz und in Österreich. In diesen dunklen Tagen stehen wir fest an der Seite unserer österreichischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Doch Trauer allein reicht nicht aus. Der Amoklauf von Graz stellt uns vor eine Reihe unbequemer, aber notwendiger Fragen. Vor allem richtet sich der Blick auf das österreichische Waffengesetz, das dem Täter den legalen Zugang zu einer Pistole und einer abgesägten Schrotflinte ermöglichte. Es war kein Versagen im System, sondern vielmehr ein Symptom dafür, dass das System selbst überdacht werden muss.

Was bedeutet Amok?

Der Begriff Amok stammt ursprünglich aus dem Malaiischen. Das Wort „meng-âmok“ beschreibt einen Zustand blinder Wut, bei dem jemand wahllos und gewaltsam angreift. Im heutigen Sprachgebrauch bezieht sich ein Amoklauf auf eine Gewalttat, bei der ein einzelner Täter unvermittelt und scheinbar grundlos mehrere Menschen angreift. Solche Taten sind häufig sorgfältig geplant und enden nicht selten mit dem Suizid des Täters. Die Grenzen zwischen Amoklauf und Anschlag sind fließend. Während ein Anschlag meist ideologisch motiviert ist, bleibt das Motiv bei Amoktaten oft diffus oder rein persönlich geprägt.

Waffenbesitz in Österreich: legal und weit verbreitet

Der 21-jährige Täter von Graz war kein Unbekannter für die Behörden. Bereits im Jahr 2021 wurde er wegen psychischer Instabilität vom Bundesheer als untauglich eingestuft. Dennoch konnte er später eine Waffenbesitzkarte erwerben.

In Österreich sind derzeit mehr als 1,5 Millionen Schusswaffen registriert. Gemessen an der Bevölkerungszahl gehört das Land damit zu den am stärksten bewaffneten Staaten Europas. Der Zugang zu Waffen ist vergleichsweise einfach. Wer volljährig ist, einen Wohnsitz in Österreich hat und nicht unter einem Waffenverbot steht, kann eine Schrotflinte legal erwerben. Für den Kauf einer Pistole ist eine Waffenbesitzkarte erforderlich, die durch eine Schulung und ein psychologisches Gutachten erlangt werden kann.

Das Gesetz sieht zwar bestimmte Schutzmaßnahmen vor, etwa eine Wartefrist oder die Pflicht zur Registrierung, doch gerade im privaten Bereich bleiben erhebliche Lücken. Der Täter von Graz durfte seine Pistole legal zu Hause aufbewahren, nicht jedoch in der Öffentlichkeit mit sich führen. Dafür wäre ein zusätzlicher Waffenpass nötig gewesen. Doch wer kontrolliert, ob eine Waffe tatsächlich das Haus nicht verlässt?

Politische Reaktionen: erste Schritte in die richtige Richtung

Nach dem Amoklauf hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen deutlich gemacht, dass Änderungen im Waffengesetz geprüft werden müssen. Bundeskanzler Christian Stocker kündigte konkrete Verschärfungen an. Diskutiert werden unter anderem eine Erhöhung des Mindestalters, neue Vorgaben zur Art der erlaubten Waffen und strengere psychologische Eignungstests. Auch ein besserer Austausch von Daten zwischen Polizei, Militär und Gesundheitswesen wird angestrebt. Der Innenminister betonte, dass Datenschutz nicht zum Sicherheitsrisiko werden dürfe.

Zudem wird eine stärkere psychologische Betreuung an Schulen sowie eine intensivere Beobachtung gefährdeter Jugendlicher gefordert. Die sozialdemokratische SPÖ unterstützt die geplanten Verschärfungen. Ihr sicherheitspolitischer Sprecher stellte zu Recht die Frage, warum es in Österreich für einen 18-Jährigen einfacher sei, eine Schrotflinte zu kaufen, als für ein zehnjähriges Kind einen Fahrradführerschein zu machen.

Ein Blick nach Deutschland: eine traurige Statistik

Der tragische Vorfall in Graz reiht sich ein in eine Serie von Amokläufen und Amokfahrten, die Europa in den letzten Jahren erschüttert haben. Deutschland bildet hier keine Ausnahme. Laut Daten des Statistikportals Statista zeigt die aktuelle Auswertung der Todesopfer bei solchen Taten, dass insbesondere Schulen wiederholt zu Schauplätzen geworden sind. So forderte der Amoklauf in Erfurt im Jahr 2002 insgesamt sechzehn Todesopfer. In Winnenden starben 2009 fünfzehn Menschen, in Berlin 2016 dreizehn. Auch Hanau, Volkmarsen und München verzeichneten erschütternde Opferzahlen.

Insgesamt listet die aktuelle Erhebung bis März 2025 mehr als 30 schwerwiegende Amokereignisse mit Todesfolge in Deutschland, darunter allein acht Vorfälle in den letzten zwei Jahren. Besonders beunruhigend ist dabei, dass sich viele Taten gegen Kinder und Jugendliche richteten oder in Schulen und auf öffentlichen Festen stattfanden.

Diese Zahlen unterstreichen die Dringlichkeit, auch in Deutschland und auf EU-Ebene verstärkt präventive Maßnahmen zu ergreifen. Denn jede Statistik ist letztlich ein Abbild menschlicher Tragödien, die verhindert werden könnten.

Was jetzt zu tun ist

Der Amoklauf von Graz muss ein Wendepunkt sein. Waffenrecht darf kein politisches Randthema bleiben. Es braucht europaweit einheitlichere Regelungen für Erwerb, Besitz und Lagerung von Schusswaffen. Psychologische Gutachten müssen durch unabhängige Fachstellen erfolgen, nicht durch Verkäufer. Der Austausch zwischen Schulen, Gesundheitsbehörden und Polizei muss effizienter werden, ohne dabei die Grundrechte zu gefährden. Und nicht zuletzt müssen junge Menschen stärker begleitet werden durch Präventionsprogramme, psychologische Betreuung und soziale Unterstützung.

Wir werden nicht jede Tat verhindern können. Aber wir können verhindern, dass sie so leicht möglich sind. Wer jetzt nichts ändert, macht sich mitschuldig an der nächsten Tragödie. 

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