Als Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) jüngst an der Medizinischen Hochschule Hannover muslimische Studierende daran erinnerte, Deutschland sei ein „laizistischer Staat“ mit strikter Trennung von Religion und Politik, unterlief ihm ein bemerkenswerter Fehlgriff. Nicht nur, weil der Begriff des Laizismus auf das deutsche Staatskirchenrecht nicht zutrifft, sondern weil diese Verkennung der Verfassungswirklichkeit für einen Bundeskanzler eine Debatte über Religionsfreiheit und staatliche Neutralität angestoßen hat. „Diejenigen, die aus der muslimischen Welt zu uns kommen, die an unseren Universitäten herzlich willkommen sind, mögen bitte daran denken“, sagte Merz, „dass wir ein laizistischer Staat sind, dass wir hier eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche haben, und dass wir insbesondere an unseren Hochschulen erwarten, dass gerade dort der Geist herrscht, den unsere Gesellschaft ausmacht, nämlich Offenheit, Liberalität und Toleranz – auch religiöse Toleranz.“ Das erwarte er insbesondere von denen, die in deutschen Hochschulen studieren und aus anderen Kulturkreisen und Religionen kämen. „Das erwarten wir, und das werden wir gegebenenfalls auch durchsetzen.“
Wenn der Regierungschef die Grundlagen des Staates missversteht
Ein Bundeskanzler muss nicht allwissend sein, doch in den Grundprinzipien des Staates, den er zu führen beansprucht, sollte er zweifelsfrei verankert sein. Dies ist kein überzogener Anspruch, sondern schlichte allgemeine Erwartung. Merz' Aussage ist mehr als nur eine flüchtige Ungenauigkeit. Sie ist ein verfassungsrechtlicher Fehlgriff, der Fragen aber auch Befürchtungen aufwirft. Seine Äußerungen sind kein Einzelfall, sondern fügen sich in ein Muster ein, das in muslimischen Communities seit Jahren Besorgnis auslöst. Seine wiederholte Betonung einer vermeintlichen deutschen „Leitkultur“, seine pauschalisierende Rhetorik gegenüber Muslimen und sein beharrliches Framing des Islams als etwas Fremdartiges, all dies hat schon in der Vergangenheit tiefes Misstrauen gesät und wird jetzt fortgeführt.
Laizismus, Säkularität, Staatskirche: Drei Modelle im Vergleich
Friedrich Merz, der ja vorgibt, eine christliche Partei anzuführen, hat möglicherweise das französische Staatskirchenmodell mit dem deutschen Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften verwechselt. Frankreich, auf das Merz' Wortwahl implizit verweist, praktiziert tatsächlich einen strengen Laizismus: Der Staat hält sich radikal aus religiösen Angelegenheiten heraus, religiöse Symbole werden im öffentlichen Dienst oft restriktiv gehandhabt. Großbritannien dagegen vereint eine etablierte Staatskirche mit weitreichender Toleranz für andere Glaubensgemeinschaften. Das ist ein historisch gewachsenes Modell, das Religionsfreiheit mit symbolischer Privilegierung verbindet, was man bereits daran erkennt, das in England Polizisten und andere Staatsbeamte sowohl mit Turban als auch Kopftuch öffentlich auftreten können. Deutschland folgt keiner dieser Prinzipien. Unser Grundgesetz garantiert Religionsgemeinschaften, ob christlich, jüdisch oder muslimisch, eine begrenzte Autonomie („Konkordatsrecht“): Die Religionsgemeinschaften entscheiden über Lehre und Praxis, genießen Eigentumsrechte, können Steuern erheben und unter bestimmten Bedingungen sogar Körperschaftsstatus erlangen. Die theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten, bekenntnisorientierter Religionsunterricht oder die Seelsorge in der Bundeswehr, Gefängnissen oder Krankenhäusern sind Ausdruck dieser Kooperation, im Gegensatz zur laizistischen Trennung.
Staatskirchenrecht für Anfänger: Was ein Kanzler wissen sollte
Ein Bundeskanzler sollte also wissen, dass die Bundesrepublik Deutschland keine strikte Trennung von Staat und Religion nach laizistischem Vorbild kennt. Vielmehr praktiziert der deutsche Staat, verankert in Art. 140 GG i.V.m. den Weimarer Kirchenartikeln, ein Modell der respektvollen Kooperation. Schon die Präambel des Grundgesetzes spricht „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Außerdem verankert Artikel 7 GG den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen. Der Staat gewährleistet also nicht nur Religionsfreiheit, sondern pflegt aktiv partnerschaftliche Beziehungen zu den Religionsgemeinschaften. Ein Blick auf die Internetseite des Bundesministeriums des Innern (BMI), das dem Kanzler untersteht oder in das Grundgesetz hätte also genügt. Dass Deutschland ein säkularer, aber kein laizistischer Staat ist, belegt auch die Rechtsprechung: Gerichte stoppten pauschale Kopftuchverbote für Lehrerinnen oder Erzieherinnen, weil sie gegen die „vorbehaltlos gewährleistete“ Glaubensfreiheit (Artikel 4) verstießen. Es gibt, so die Richter, kein Recht darauf, „von der Wahrnehmung anderer religiöser Bekenntnisse verschont zu bleiben“. Religiöse Symbole im öffentlichen Raum sind somit kein Verstoß gegen deutsche Staatsprinzipien, solange sie nicht Grundrechte Dritter beschneiden.
Religionsfreiheit im Grundgesetz: Kooperation statt Laizismus
Merz' Appell zur „religiösen Toleranz“ ist an sich legitim – doch er verkennt, dass Toleranz im deutschen System nicht durch staatliche Dominanz, sondern durch respektvolle Kooperation und abgestimmte Distanz entsteht. Wenn muslimische Studierendenverbände im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung ihre religiösen Überzeugungen leben, etwa durch Gebetsräume oder freiwillige, geschlechtergetrennte Sitzordnungen, so steht dies grundsätzlich unter dem Schutz der Religionsfreiheit. Eine pauschale Berufung auf Laizismus, die solche Praktiken generell ausschließen will, widerspricht dem deutschen Staatskirchenrecht. Zwar muss der Staat eingreifen, wenn konkrete Grundrechtsverletzungen vorliegen, etwa bei Diskriminierung oder Zwangsausübung. Ein generelles Verbot religiöser Äußerungen im öffentlichen Raum jedoch wäre mit dem kooperativen Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes unvereinbar. Die deutsche Verfassungsordnung schützt nicht nur die negative Religionsfreiheit (Freiheit von Religion), sondern ebenso die positive Religionsfreiheit (Freiheit zu religiöser Betätigung), auch im universitären Raum.
Deutschlands Universitäten sind seit jeher ein Raum, in dem sich religiöses Leben frei entfalten kann, nicht nur für christliche, sondern auch für jüdische Studierende. Die Katholische Deutsche Studentenverbindung (KDStV) im Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen und die Evangelische Studentengemeinde (ESG) gestalten seit Jahrzehnten das universitäre Leben mit: von ökumenischen Gottesdiensten über theologischen Diskussionsrunden bis hin zu geschlechtergetrennte Angebote wie Frauenkreisen oder Männertreffen, die Katholiken und Protestanten nicht fremd sind. Auch die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) organisiert Veranstaltungen, die spezifisch jüdischen Traditionen folgen. Insbesondere in orthodoxen Kreisen dürften selbstverständlich koschere Verpflegung und geschlechtergetrennte Gebetskreise gepflegt werden. Diese Ausdrucksformen jüdischen Glaubenslebens haben selbstverständlich auch an deutschen Hochschulen ihren Platz.
Verpasste Lektion aus der Ära Schäuble: Der Islam als deutsche Realität
Das Plädoyer von Bundeskanzler Friedrich Merz für mehr Liberalität verdient Zustimmung. Doch wer das deutsche Staatskirchenmodell beschreibt, sollte es präzise tun: als säkularen Staat, der Neutralität wahrt, ohne eine Religion zu marginalisieren. Die Herausforderung besteht nicht darin, französische Verhältnisse zu beschwören, sondern die Balance zwischen weltanschaulicher Offenheit und rechtlichen Grenzen zu wahren, insbesondere an Universitäten. Das Grundgesetz gibt den Rahmen vor. Es gilt, ihn klug auszufüllen, anstatt mit falschen Begrifflichkeiten zu hantieren.
Doch der Sprachduktus des Bundeskanzlers verrät ein tieferliegendes Problem: Er behandelt muslimische Studierende noch immer als Fremdkörper, als wären sie keine gleichberechtigten Bürger dieses Landes, sondern bloße Gäste, die sich gefälligst anzupassen hätten. Das Grundgesetz jedoch kennt keine Abstufungen der Religionsfreiheit. Es garantiert sie allen Bürgern gleichermaßen, ob christlich, jüdisch oder muslimisch. Der Versuch des Kanzlers, allein Muslimen pauschal laizistische Zurückhaltung zu verordnen, während andere religiöse Gemeinschaften ihre Rechte selbstverständlich wahrnehmen, offenbart eine selektive Lesart unserer Verfassung.
Hier wäre ein Blick in die jüngere Geschichte lehrreich: Der verstorbene Wolfgang Schäuble, dessen staatsmännisches Wirken wir alle schätzen, hatte längst verstanden, dass der Islam zu Deutschland gehört. Er wusste: Integration gelingt nicht durch Ausgrenzung, sondern durch gleichberechtigte Teilhabe in einem klaren Rechtsrahmen. Es ist bedauerlich, dass diese Einsicht in der Rhetorik des Kanzlers kaum Widerhall findet. Deutschland ist längst ein plurales Land. Ein Kanzler, der es regiert, sollte das nicht nur akzeptieren, sondern gestalten. Ohne Wenn und Aber.
Sicher, jeder darf sich versprechen. Doch Merz‘ Äußerung war zu deutlich, um als bloßer Lapsus durchzugehen. Sie ignoriert die historisch gewachsene Balance unseres Systems und die Ordnung unserer Verfassung. Wer sie falsch deutet, verkennt nicht nur das Grundgesetz, sondern auch den Geist des Zusammenlebens.