75 Jahre NATO – ein Grund zum Feiern, aber auch ein Moment der ernüchternden Selbstreflexion. Als NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Juli 2024 zum Jubiläum in Washington sprach, erinnerte er daran, dass das nordatlantische Bündnis nicht nur das älteste, sondern auch das erfolgreichste der Geschichte sei. Doch gleichzeitig warnte er eindringlich: „Denken Sie daran: Die größten Kosten und das größte Risiko bestehen, wenn Russland in der Ukraine gewinnt.“ Dieser Satz klingt wie ein Alarmruf. Denn, obwohl der Krieg andauert, scheint der Westen, insbesondere Europa, in eine gefährliche Lethargie zu verfallen – dabei wäre jetzt genau die Zeit, um entschlossen zu handeln.
Die europäische Sicherheitsordnung wankt
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat sich die geopolitische Realität Europas fundamental verändert. Der Krieg hat nicht nur tausende Menschenleben gekostet, sondern auch das Vertrauen in eine stabile Nachkriegsordnung erschüttert. Zwei Jahre später ist klar: Russland hat den Krieg nicht gewonnen – aber die Ukraine auch nicht. Ein zermürbender Stellungskrieg, stagnierende Frontlinien und eine immer brüchiger werdende Unterstützung aus dem Westen drohen, die Verteidigung der Ukraine zu untergraben.
Ohne Amerika? Europas strategischer Ernstfall
Lange Zeit hat sich Europa sicherheitspolitisch auf die Vereinigten Staaten verlassen. Doch diese Ära ist vorbei – und das endgültiger, als viele wahrhaben wollen. Mit dem Wiedereinzug Donald Trumps ins Weiße Haus im Januar 2025 hat sich das transatlantische Kräfteverhältnis grundlegend verschoben.
Schon während seiner ersten Amtszeit stellte Trump die NATO offen infrage, drohte mit einem Austritt und warf den europäischen Partnern mangelndes Engagement vor. Nun, in seiner zweiten Präsidentschaft, droht die Rhetorik von damals zur Realität zu werden: Eine drastische Reduzierung des amerikanischen Engagements in Europa – militärisch, finanziell und strategisch – ist keine theoretische Möglichkeit mehr, sondern eine konkrete Gefahr. Europa steht zunehmend allein da.
Diese Entwicklung ist kein Zufall, sondern das Ergebnis jahrelanger sicherheitspolitischer Selbsttäuschung. Seit Langem fordern Experten mehr Eigenverantwortung, doch die Verteidigungsausgaben stiegen vielerorts nur marginal. Noch immer erreichen viele europäische Staaten nicht einmal das 2-Prozent-Ziel der NATO – ein Wert, der kaum mehr als ein sicherheitspolitisches Mindestmaß darstellt. Sicherheit kostet Geld. Untätigkeit kostet Stabilität. Europa muss aufhören, Verantwortung zu delegieren – es muss endlich bereit sein, sie zu übernehmen.
Türkiye: Ein unverzichtbarer NATO-Partner
Gleichzeitig muss sich Europa auch geopolitisch breiter aufstellen. Der Blick auf die europäische Peripherie reicht nicht mehr aus. Globale Machtverschiebungen – von der Indo-Pazifik-Region bis zur Arktis – verlangen strategische Voraussicht, technologische Aufrüstung und politische Einigkeit. Die NATO bleibt dabei ein zentrales Instrument, aber sie kann nur so stark sein wie ihre Mitglieder bereit sind zu investieren.
In diesem Kontext ist es auch höchste Zeit, den Beitrag von Partnerstaaten wie Türkiye neu zu würdigen – strategisch, militärisch und geopolitisch. Türkiye ist nicht nur geographisch von zentraler Bedeutung, sondern spielt auch politisch eine Schlüsselrolle innerhalb des Bündnisses. Als zweitgrößte Armee der NATO bringt Türkiye operative Erfahrung, territoriale Reichweite und logistische Infrastruktur mit, die insbesondere im Hinblick auf den Nahen Osten, das Schwarze Meer und den Kaukasus unverzichtbar sind.
Incirlik, Konya, Kürecik – die Namen dieser Stützpunkte mögen in Brüssel oder Berlin selten genannt werden, doch sie bilden das Rückgrat vieler NATO-Einsätze und Frühwarnsysteme. Darüber hinaus engagiert sich Türkiye aktiv in sicherheitspolitischen Missionen, sei es in Afghanistan, auf dem Balkan oder im östlichen Mittelmeer.
Gerade in einer Zeit tiefgreifender Umbrüche ist es für Europa unerlässlich, die Partnerschaft mit Türkiye nicht nur als sicherheitspolitische Notwendigkeit, sondern als strategische Chance zu begreifen. Türkiye vereint geographische Schlüsselposition, militärische Stärke und diplomatische Reichweite – eine Kombination, die im aktuellen internationalen Umfeld von unschätzbarem Wert ist. Eine vertiefte sicherheits- und außenpolitische Zusammenarbeit mit Türkiye würde nicht nur die Resilienz der NATO stärken, sondern auch ein wichtiges Signal für strategische Geschlossenheit und gegenseitiges Vertrauen innerhalb des Bündnisses senden. Europa täte gut daran, diese Partnerschaft zu vertiefen – nicht aus taktischem Kalkül, sondern aus Überzeugung und Weitsicht.
Ein Weckruf zur richtigen Zeit
Der Krieg in der Ukraine hat eines deutlich gemacht: Die Sicherheitsarchitektur Europas ist verletzlich. Und sie ist ohne USA kaum denkbar. Es ist höchste Zeit, dass Europa aufwacht und beginnt, sich ernsthaft auf eine Zukunft vorzubereiten, in der die transatlantische Rückversicherung nicht mehr garantiert ist. Diese Vorbereitung bedeutet nicht das Ende der NATO – im Gegenteil. Sie ist eine Überlebensstrategie für die NATO im 21. Jahrhundert.
Dazu bedarf es eines klaren Blicks auf die sicherheitspolitische Realität und eines gemeinsamen Verständnisses für die Herausforderungen der Zukunft. Die Stärkung der NATO im 21. Jahrhundert setzt eine starke, handlungsfähige europäische Säule voraus – getragen von Vertrauen, Kooperationsbereitschaft und strategischer Weitsicht. Wenn Europa jetzt in seine sicherheitspolitische Resilienz investiert und gleichzeitig den Dialog mit verlässlichen Partnern vertieft, kann das Bündnis nicht nur bestehen, sondern auch an Stabilität und Einfluss gewinnen.