Was bleibt von Merkels Flüchtlingspolitik?
POLITIK
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Was bleibt von Merkels Flüchtlingspolitik?Zehn Jahre nach „Wir schaffen das“ ist Deutschland gespalten: Merkels Flüchtlingspolitik trieb die AfD nach oben, spaltete Europa und stellt die Frage neu: Haben wir das wirklich geschafft – oder droht der Zerfall?
Ex-Kanzlerin Angela Merkel / AFP
vor 13 Stunden

von Selenay Keskin

Vor zehn Jahren prägte Angela Merkel mit dem Satz „Wir schaffen das“ das wohl bekannteste Motto ihrer Kanzlerschaft. Heute zeigt sich: Die damalige Flüchtlingskrise war nicht nur ein humanitärer Einschnitt, sondern auch ein politischer Wendepunkt für Deutschland und Europa. Der Blick zurück offenbart, wie sehr Merkels Politik das Parteiensystem verschoben, die Europäische Union herausgefordert und den inneren Zusammenhalt verändert hat.

Aufstieg der Rechtspopulisten

Die Entscheidung der Bundesregierung im Jahr 2015, hunderttausende Geflüchtete aufzunehmen, wurde von Befürwortern als humanitäre Pflicht, von Kritikern als Kontrollverlust bewertet. Gerade diese Spannungen erwiesen sich als Katalysator für den Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen.

In Deutschland nutzte die AfD das Vakuum, das durch Merkels Kursverschiebung entstand: Während die CDU unter Merkel in gesellschaftspolitischen Fragen in die Mitte rückte, besetzte die AfD den frei gewordenen rechten Raum. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich die Partei von einer euroskeptischen Kleinpartei zu einer zentralen Kraft, die mittlerweile bundesweit hinter der CDU/CSU Platz zwei belegt und in Ostdeutschland stärkste Partei ist.

In einem exklusiven Interview mit TRT Deutsch betont jedoch Ulrich Brückner, Professor am Stanford Center in Berlin, dass es zu kurz greife, den Aufstieg des Rechtspopulismus allein auf das Jahr 2015 zu reduzieren. „Populisten brauchen keine Fakten, wie wir gerade an Trumps Themen ‚Sicherheit in den Städten‘ oder ‚Die Welt beutet die USA über Freihandel aus‘ sehen. Vor dem Migrationsthema war die AfD eine D-Mark-Partei, die gegen den Euro polemisierte und Ängste schürte.“ Im europäischen Vergleich habe sich Deutschland damit eher „normalisiert“ – während in anderen Ländern bereits früher nationalistische, ausländerfeindliche und Anti-EU-Parteien erfolgreich waren, habe die deutsche Demokratie solche Positionen länger abwehren können.

Der Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte war jedoch kein rein deutsches Phänomen. Auch in anderen EU-Staaten veränderte die Migrationspolitik die politische Landschaft. In Italien, Frankreich, den Niederlanden und Ungarn gewannen rechte Parteien erheblich an Einfluss. Damit wurde deutlich: Die Flüchtlingskrise wirkte europaweit als Katalysator für Populismus – und gefährdete die Stabilität der liberalen Demokratien.

Europäischer Zusammenhalt auf dem Prüfstand

Die Flüchtlingskrise legte schonungslos offen, wie wenig handlungsfähig die EU in Fragen der Migrationspolitik war. Während Deutschland und Schweden zunächst großzügig Geflüchtete aufnahmen, schotteten sich andere Mitgliedsstaaten ab. Osteuropäische Länder weigerten sich, gemeinsame Aufnahmequoten umzusetzen, was die Spaltung zwischen Ost und West verschärfte.

Rückblickend zeigt sich: Eine koordinierte europäische Antwort hätte Spannungen abmildern können. Stattdessen entstand ein Bild von Uneinigkeit, das bis heute nachwirkt. Auch in späteren Krisen – ob Corona-Pandemie, Ukrainekrieg oder Energiekrise – offenbarte sich, dass die EU zwar in der Lage ist, gemeinsame Finanzpakete zu schnüren, aber beim Thema Migration weiterhin gespalten bleibt.

Brückner erklärt, warum diese Spaltung nicht überraschend war: „Die EU kann nicht machen, was sie will. Sie agiert auf der Grundlage von formal ins Primärrecht übertragenen Kompetenzen. Zu Beginn der Migrationskrise waren die rechtlichen Möglichkeiten für eine europäische Migrationspolitik, die diesen Namen verdient, schlicht nicht vorhanden. In Demokratien entscheidet der Demos, wer dazugehören soll, nicht eine überstaatliche Organisation, die nach funktionalen Kriterien Menschen wie Lasten verteilt.“

Brückner verweist zudem auf die sehr unterschiedlichen Voraussetzungen innerhalb der Mitgliedsstaaten: „Jedes EU-Land hat andere historische Erfahrungen mit Asyl, Einwanderung und Integration. Es gibt Unterschiede in der Demographie, beim Wohlstand, beim Bedarf nach Arbeitskräften. Gesellschaften sind unterschiedlich offen oder konservativ, es gibt eine Willkommenskultur oder das Gegenteil.“

Entsprechend sei es kompliziert, eine gemeinsame EU-Position zu formulieren – und sie anschließend auch noch zuhause zu kommunizieren. Welche Lehren man aus dieser Situation ziehe, hänge letztlich stark von der jeweiligen politischen Grundhaltung ab: Während Rechtsextreme die Gleichheit von Menschen in Frage stellten, bauten Konservative an einer „Festung Europa“. Kosmopoliten träumten von einer Welt ohne Grenzen, während Wirtschaftsliberale eine Einwanderungspolitik nach Nützlichkeitskriterien forderten.

Damit hat die Flüchtlingspolitik von 2015 nicht nur kurzfristige Konflikte ausgelöst, sondern auch eine strukturelle Schwäche offengelegt: den Mangel an Solidarität innerhalb der Union.

Zwischen Polarisierung und Reformagenda

Zehn Jahre nach „Wir schaffen das“ steht Deutschland erneut an einem Scheideweg. Mit der neuen Bundesregierung unter Friedrich Merz, einer erstarkten AfD und einem politisch polarisierten Klima zeigt sich, dass die damalige Krise bis heute nachwirkt.

Die zentrale Frage lautet: Wird Deutschland in der Lage sein, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren – oder vertieft sich die Spaltung? Vieles deutet auf eine Fortsetzung der Polarisierung hin, insbesondere wenn Migration und Integration weiterhin primär parteipolitisch instrumentalisiert werden.

Auch auf europäischer Ebene bleibt der Handlungsdruck hoch. Die EU ist angesichts globaler Krisen – vom Ukrainekrieg bis zu geopolitischen Rivalitäten – stärker denn je auf Kooperation angewiesen. Doch ohne eine Reform der Migrations- und Asylpolitik droht die Union, bei der nächsten Krise erneut handlungsunfähig zu sein.

Brückner ordnet die Zukunftsperspektiven wie folgt ein: „Die prognostischen Fähigkeiten von Sozialwissenschaften ist gering, weil sich die Summe menschlicher Verhaltensweisen als die sich gesellschaftliche Wirklichkeit darstellt, nicht modellieren lässt wie eine datengestützte Wettervorhersage. Es ist ebenso möglich, dass die EU zerfällt und wir in dumpfen Nationalismus zurückfallen wie es möglich ist, dass die EU als der letzte Hort eines humanitären, freiheitlichen Zusammenlebens gilt, in dem westliche Werte respektiert und geschützt werden.“

Eine Perspektive könnte darin liegen, den Integrationsgedanken zu erneuern und realistische Reformschritte einzuleiten – etwa durch stärkere Zusammenarbeit mit Drittstaaten wie Türkiye, das bereits in der Vergangenheit eine Schlüsselrolle in der Migrationsfrage gespielt hat. Ob Europa diese Chance ergreift, wird mitentscheiden, ob das Motto „Wir schaffen das“ auch in Zukunft noch politische Bedeutung entfalten kann.

QUELLE:TRT Deutsch
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