Vor 25 Jahren, am 9. September 2000, wurde der Blumenhändler Enver Şimşek in Nürnberg Opfer eines tödlichen Attentats. Der 38-jährige Familienvater wurde auf offener Straße, auf der Ladefläche seines Transporters, niedergeschossen und erlag zwei Tage später seinen Verletzungen. Erst Jahre später sollte sich herausstellen, dass dieser Mord der Auftakt einer gesamten Terrorserie war: Şimşek war das offiziell erste Opfer der rechtsextremen Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), die in der Folge mindestens neun weitere Menschen mit fast ausschließlich türkischer Migrationsgeschichte sowie eine Polizistin ermordete. Für die Hinterbliebenen begann mit dem schmerzlichen Verlust ihrer Ehegatten oder Väter ein langer, leidvoller Weg im Ungewissen.
Jahrelang unter Generalverdacht
Statt Aufklärung und Unterstützung erfuhren sie jedoch Misstrauen und Verdächtigungen durch Teile der Ermittlungsbehörden. Zunächst stand sogar Enver Şimşeks Ehefrau unter dem fälschlichen Verdacht, in die Tat verwickelt zu sein. Später hielt sich hartnäckig das Gerücht, das Opfer sei in kriminelle Geschäfte verwickelt gewesen, eine haltlose Unterstellung, die das Leid der Familie zusätzlich vergrößerte. In einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung blickt die heute 39-jährige Tochter von Enver Şimşek, Semiya Şimşek, nochmal auf die schmerzvolle Zeit zurück: „Nach den Morden waren wir auf einmal die Kinder von ‚Kriminellen‘. Aber wir wussten immer: Unsere Väter waren nicht kriminell. Wir konnten es nur nicht beweisen und wurden nicht ernst genommen. 2011, als feststand, dass es Neonazis waren, waren wir auf einmal Opfer. Aber ich hätte die Hilfe 2000, mit 14 gebraucht. Meine Mutter hätte sie damals gebraucht.“
Die wahre Dimension, der rassistischen und türkenfeindlichen Mordattentate sowie die Identität der offiziell bekannten Täter traten, erst im Jahr 2011 zutage, als der sogenannte NSU aufflog. Mit der vermeintlichen Selbsttötung der Terrorgruppe um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und der Selbstenttarnung von Beate Zschäpe endete für die Angehörigen endlich eine elfjährige Odyssee des Wartens und Kämpfens um die Wahrheit. Schon damals war allerdings sicher, dass das Netzwerk des NSU größer und erheblich tiefer reichte als angenommen.
Eine rätselhafte Serie von Zeugentoden
Zudem warfen über die Jahre hinweg mehrere mysteriöse Todesfälle im Umfeld des NSU-Komplexes schwerwiegende Fragen auf. Eine auffällige Häufung betraf Zeugen, die entscheidende Aussagen machen wollten. So wurde der Neonazi-Aussteiger Florian H. 2013 tot in seinem Auto aufgefunden, ausgerechnet an dem Tag, an dem er vom Landeskriminalamt vernommen werden sollte. Als Todesursache wurde Suizid angegeben. Seine Ex-Freundin Melisa M., die ebenfalls aussagen wollte, war kurz nach ihrer Befragung vor einem NSU-Untersuchungsausschuss 2015 überraschend an einer Lungenembolie verstorben.
Ein weiterer Mann aus diesem persönlichen Umfeld, Sascha W., wurde 2016 tot in seiner Wohnung gefunden. Alles nur Zufall? Doch die Reihe ungeklärter Todesfälle reicht weiter: Ein unter dem Codenamen „Corelli“ geführter, hochbezahlter V-Mann, dessen Name auf einer Adressliste von NSU-Terrorist Uwe Mundlos stand, wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden. Obwohl er unter Zeugenschutz stand, lautete die offizielle Erklärung „unerkannte Diabetes“. Bereits 2009 war Arthur C. verstorben, dessen Name in den NSU-Akten auftauchte und der eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Phantombild haben sollen. Die offiziellen Erklärungen für diese Tode wirken bis heute wenig plausibel und nähren die Vorstellung von systemischen Aufklärungsdefiziten.
Dokumentationszentrum soll Aufklärung vorantreiben
Für die FAZ-Autorin Diba Shokri beschreibt der Begriff „NSU-Komplex“ mehr als nur die offiziell verübten Verbrechen. Ihre Definition schließt folgende Dimensionen ein: das Netzwerk der Unterstützer aus der Neonazi-Szene, die kontroversen Verbindungen zu deutschen Nachrichtendiensten, eine von Rassismus geprägte mediale Berichterstattung und das Ausbleiben jeder Solidarität mit den Betroffenen, deren Stimmen nicht gehört wurden.
Viele Aspekte zu diesem „Komplex“ sind aber noch immer nicht beantwortet. Die offenen Fragen zum Beispiel nach den Beteiligten, also weiteren Tätern und Helfershelfern sowie die systematische Verweigerung von Transparenz durch Aktenvernichtung und gesperrte Archivunterlagen in Behörden, die den Komplex bis heute charakterisieren, sollen des Weiteren durch das im Mai eröffnete erste Dokumentationszentrum Deutschlands zum NSU-Komplex thematisiert und erörtert werden.
Amadeu Antonio Stiftung: „Leugnen rassistischer Tatmotive ein strukturelles Problem“
Anlässlich des 25. Jahrestages des ersten NSU-Mordes an Enver Şimşek am 9. September 2000 sieht die Amadeu Antonio Stiftung die Ermittlungsbehörden in einer anhaltend kritischen Situation. Lorenz Blumenthaler, Presseleiter der Stiftung, legt den Finger auf die nach wie vor offene Wunde des NSU-Komplexes. Blumenthalter bemängelt gegenüber der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA), dass rassistische Tatmotive nach wie vor zu schnell verworfen würden. Es gebe ein strukturelles Problem und aus aus den Ermittlungspannen im Zuge der NSU-Mordserie habe man kaum Lehren gezogen. Blumenthaler verweist zur Untermauerung seiner Kritik auf den jüngsten Brandanschlag in Solingen.
Trotz offensichtlicher Indizien für einen rechtsextremen Hintergrund des Täters sei ein rassistisches Motiv von offizieller Seite früh ausgeschlossen worden. Dies stehe im diametralen Gegensatz zu einer der Kernforderungen von Betroffeneninitiativen und zivilgesellschaftlichen Organisationen: Die Täter müssen von Beginn an auch in diesem Milieu gesucht und ein entsprechendes Motiv ernsthaft in Betracht gezogen werden.
Stiftung kritisiert strukturelles Versagen der Behörden
Konkret fordert die Amadeu Antonio Stiftung, dass rechtsextreme Gewalt in Ermittlungen und Urteilen klar benannt wird. Dafür brauche es mehr Schulungen für Polizei und Justiz, insbesondere im Erkennen moderner rechtsextremer Codes und Symboliken. Ein weiteres Problem sei die Diskrepanz bei der offiziellen Anerkennung der Opfer. Während die Bundesregierung lediglich 117 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 anerkenne, liege die dokumentierte Zahl der Stiftung bei 221.
Auch bei der Entschädigung der Opfer sieht Blumenthaler staatliches Versagen. Häufig müssten erst Organisationen wie die seine einspringen, um unbürokratische Hilfe zu leisten, wie nach dem rassistischen Anschlag von Hanau 2020. Einen positiven Aspekt sieht er jedoch in der gestiegenen Sichtbarkeit der Opfer: Durch ihre starke Vernetzung und öffentliche Präsenz könnten sie heute erfolgreich politischen Druck ausüben, was beispielsweise zur korrekten Einstufung des OEZ-Attentats (Olympia-Einkaufszentrum) in München führte.
Rechtsextreme Gewalt und Einfluss nehmen weiter zu
Der aktuelle Verfassungsschutzbericht zum Jahr 2024 registriert einen alarmierenden Anstieg rechtsextremer Straftaten. Auch hat sich die Anzahl an Rechtsextremen in unserem Land über die letzten 10 Jahre verdoppelt. Im Jahr 2024 traten zudem 10.000 Personen der AfD bei. Damit hat die rechtsradikale Partei nun über 50.000 Mitglieder, von denen 20.000 vom Verfassungsschutz als „Rechtsextremisten“ betrachten werden. Unter allen Rechtsextremisten in Deutschland, die der Verfassungsschutz als gewaltorientiert einschätzt, stieg die der Gewaltbereiten um 800 Personen auf insgesamt 15.300.
AfD profitiert durch die Krisen im Land
Die Aussicht auf einen AfD-Ministerpräsidenten im kommenden Jahr dürfte viele Deutsche beunruhigen. Denn in Sachsen-Anhalt, wo nächsten Jahr Landtagswahlen stattfinden, kommt die Partei derzeit auf 39 Prozent und kratzt an der absoluten Mehrheit. In vielen weiteren Umfragen liegt die Partei im Bundestrend entweder knapp hinter der Union (CDU/CSU) oder sogar darüber. Für die schwarz-rote Koalition, die derzeit vielerlei Baustellen hat (Bürgergeld, Rente, Pflege, Infrastruktur, interner Streit) dürfte die Nervosität in den kommenden Monaten zunehmen.
Die wirtschaftliche Lage mit erstmals über drei Millionen Arbeitslosen seit mehr als zehn Jahren, die schwächelnden Konjunktur und die allgemeinen Zukunftssorgen dürfte der AfD in die Hände spielen. Auch der allgemeine Aufstieg des Rechtspopulismus und des Autoritarismus in der Welt dürfte der AfD nützen. Ganz zu schweigen von der Unterstützung durch die Regierung Trump sowie den Tech-Milliardär Elon Musk.
Die Giftstoffe des NSU wirken weiter
Die Geschichte des NSU ist kein abgeschlossenes Kapitel. Sie ist eine offene Wunde unserer Gesellschaft, die von ungeklärten Todesfällen, unvollständigen Akten und einem anhaltenden, strukturellen Rassismus in Teilen der Sicherheitsbehörden zeugt. Die Worte von Semiya Şimşek: „Ich hätte die Hilfe 2000, mit 14, gebraucht“, sind der bittere Beweis für ein doppeltes Versagen; erst durch den Terror, dann durch Teile der Behörden, die die Opfer im Stich ließen.
Der Aufstieg der AfD und die Zunahme rechtsextremer Gewalt zeigen, dass die Giftstoffe, aus denen der NSU erwuchs, weiterwirken. Das Gedenken an die Opfer bleibt leer, wenn es nicht mit konkreten Konsequenzen verbunden ist: der vollständigen Aufklärung des NSU-Komplexes, der uneingeschränkten Öffnung aller Akten und einer Null-Toleranz-Politik gegenüber rechtsextremen Netzwerken in Behörden und Parlamenten. Der Kampf der Angehörigen um Wahrheit ist mehr als eine Frage der historischen Gerechtigkeit. Er ist ein essenzieller Test für die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie von heute.