POLITIK
9 Min. Lesezeit
Die gescheiterte Israel-Doktrin: Wann begreifen wir, dass Schweigen Netanjahu hilft?
Während die Weltgemeinschaft ihre Kritik an Israels Kriegsführung angesichts der eskalierenden humanitären Katastrophe in Gaza verschärft, verharrt Deutschland in wohlfeilen Appellen. Die Frage drängt sich auf: Wann folgen Taten statt Rhetorik?
Die gescheiterte Israel-Doktrin: Wann begreifen wir, dass Schweigen Netanjahu hilft?
Die gescheiterte Israel-Doktrin: Wann begreifen wir, dass Schweigen Netanjahu hilft? / Foto: Getty Images
vor 5 Stunden

Vor etwa zwei Wochen forderten 28 Staaten in einem gemeinsamen Appell ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen in Gaza. Zu den Unterzeichnern gehörten u.a. Frankreich, Italien, Kanada. Weitere EU-Partner schlossen sich der britischen Initiative an, die ein sofortiges Ende des Gaza-Kriegs, die Befreiung der israelischen Geiseln und die Achtung des Völkerrechts verlangte. Deutschland jedoch weigerte sich, den Appell zu unterschreiben. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) verwies lediglich auf frühere Verurteilungen der Lage. Eine Reaktion, die angesichts der Eskalation kaum als ausreichend gelten kann. Die zögerliche Haltung der Bundesregierung stößt auf wachsendes Unverständnis.

Deutsche Kommentatoren verlieren die Geduld mit dem Partner Israel

In einem aufschlussreichen Beitrag in der „Zeit“ (Printausgabe) von Tina Hildebrandt mit dem Titel: „Warum bleibt die Bundesregierung bei ihrer Israelpolitik?“ diagnostizierte die Autorin ein gesellschaftliches „Unverständnis“, das weit über die SPD-Anhängerschaft hinausreiche. Gaza habe sich, so Hildebrandt, zu einem zutiefst polarisierenden Thema in Deutschland entwickelt. Ein Thema, das „Familien, die Gesellschaft, Parteien, womöglich auch die Koalition“ entzweien könne. Entscheidender noch: Die traditionelle deutsche „Staatsräson“ in der Israel-Politik finde in der Bevölkerung kaum noch Rückhalt. „In der deutschen Gesellschaft ist die Meinung dazu inzwischen gekippt.“

Während also europäische Partner wie Spanien, Irland oder Norwegen bereits konkrete Schritte wie Waffenembargos oder Sanktionen erwägen, zögert die schwarz-rote Regierung weiter und riskiert damit nicht nur Glaubwürdigkeit, sondern auch Menschenleben. Die historische Mahnung, die Michail Gorbatschow zugeschrieben wird, gilt hier mehr denn je: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Jeder Tag des Zauderns verlängert das Leid im Gazastreifen und untergräbt Deutschlands moralische Autorität. Deutsche Kommentatoren verlieren zunehmend die Geduld mit dem Vorgehen ihrer Regierung mit Israel. Erst Anfang August machte Daniela Vates im Kölner Stadt-Anzeiger (Printausgabe) darauf aufmerksam, dass „mehr Härte gegen die Regierung Netanjahu der Freundschaft mit Israel keinen Abbruch“ tue. Sie forderte „spürbare Konsequenzen“ und „Sanktionen“ gegen die israelische Regierung, die „das Maß verloren“ habe und sprach von einem „falschen Verständnis von Freundschaft“ der Bundesregierung.

Zudem stellte Martin Klingst in der „Zeit“ die Frage:  „Welche Untaten muss Israel im Gazastreifen eigentlich noch verüben, bevor auch Deutschland seine Stimme erhebt und endlich seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommt?“ Und: „Das humanitäre Völkerrecht und das Kriegsvölkerrecht setzen dem Recht auf Selbstverteidigung klare Grenzen“ […] „Israels Regierung und Armee aber haben diese rote Linie längst verletzt – und zwar gravierend. Die Beweise für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind erdrückend. Selbst Hinweise, die den Verdacht auf einen möglichen Völkermord in Gaza belegen könnten, verdichten sich.“

74 Prozent der Deutschen für mehr Druck der Bundesregierung auf Israel – Kritik der SPD wächst

Eine deutliche Mehrheit der Deutschen fordert von der Bundesregierung ein entschiedeneres Vorgehen gegenüber Israel, um den Krieg im Gazastreifen zu beenden. Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage im Auftrag des „Stern“ befürworten 74 Prozent der Befragten eine härtere Haltung, während nur 22 Prozent dies ablehnen. Besonders ausgeprägt ist diese Forderung bei Wähler der Linken (94 %) und der Grünen (88 %), doch auch in der Anhängerschaft von SPD und Union (jeweils 77 %) gibt es eine klare Mehrheit für einen Kurswechsel.

Wachsende Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung auch aus der Politik

Die Eskalation im Gazastreifen stellt auch die Bundesregierung vor eine Gewissensfrage: Wie lange kann sie Israels Kriegsführung noch ohne Konsequenzen hinnehmen? Die EU-Kommission schlug Ende Juli vor, Israels Teilnahme am Forschungsprogramm Horizon Europe einzuschränken, konkret die Förderung von Start-ups im Rüstungs- und Sicherheitssektor. Doch Berlin blockiert - noch. Allerdings werden die Töne aus der SPD gegenüber dem Koalitionspartner der CDU/CSU in Bezug auf ein härteres Vorgehen gegenüber Israel immer schärfer. So sagte Siemtje Möller, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, ihr Eindruck sei, dass sich die israelische Regierung ohne Druck kaum mehr bewegen lasse. Und: Sollten konkrete Verbesserungen „zeitnah ausbleiben“, müsse das Konsequenzen haben. Denkbar seien etwa Sanktionen gegen rechtsextreme israelische Kabinettsmitglieder oder eine „(Teil-)Aussetzung von Rüstungsexporten“. Aus der CDU zog der Außenpolitiker Norbert Röttgen eine klare Linie: „Wenn sich Israels Politik nicht sehr schnell ändern sollte, wäre auch Deutschland gezwungen, zusammen mit unseren Partnern konkrete Maßnahmen zu ergreifen“, sagte der Unionspolitiker der „Zeit“. Die Drohung ist unmissverständlich. Röttgen geht weiter als viele in seiner Partei: Er verknüpft israelisches Handeln explizit mit deutschen und europäischen Werten. „Das bedeutet auch, Projekte und Vereinbarungen auszusetzen, die ausdrücklich das Bekenntnis zu humanitären und völkerrechtlichen Verpflichtungen beinhalten.“ Das wäre ein Paradigmenwechsel: Bisher stand Israels Sicherheit für Deutschland stets über allem, selbst wenn dabei internationales Recht verletzte oder gebrochen wurde.

Über 360 deutsche Künstler fordern Waffenembargo gegen Israel

Nicht nur in der Politik, sondern auch aus der Gesellschaft, insbesondere aus der Kulturszene, werden zunehmend kritische Stimmen laut: In einem offenen Brief mit dem Titel „Lassen Sie Gaza nicht sterben, Herr Merz“ haben mehr als 360 Künstler vor mehr als einer Woche Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) dafür gedankt, dass er nach anfänglichem Zögern in letzter Zeit doch noch mit klaren Worten auf das Vorgehen der israelischen Regierung reagierte. Immerhin sei klar, so die Verfasser des Briefes: „Worte allein retten keine Leben“. Daher forderten Sie den deutschen Regierungschef zu weitreichenderen Maßnahmen auf. Die Prominenten, zu denen unter anderem der Musiker und Moderator Giovanni Zarella oder bekannte Schauspieler wie Daniel Brühl, Jessica Schwarz, Benno Fürmann oder Heike Makatsch zählen, wählten für deutsche Verhältnisse überaus emotionale Worte: „Kinder, abgemagert bis auf Haut und Knochen, die Augen leer, die Handgelenke dünn. Babys, vor Hunger zu schwach, um zu weinen. Alte, schwache und kranke Menschen, die keine ausreichende Versorgung erhalten. Die in Gaza sterben. Tag für Tag. Dabei sind es Menschen. Mütter. Väter. Kinder. Kinder wie unsere. Kinder wie Ihre. Kinder, die nicht Teil dieses Krieges sind – und doch seine ganze Last tragen. Mehr als 17.000 wurden bereits getötet. Hunderttausende sind verletzt, traumatisiert, vertrieben, hungern.“ Sie forderten von Friedrich Merz: „Stoppen Sie umgehend alle deutschen Waffenexporte an Israel. Unterstützen Sie das Aussetzen des Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel. Fordern Sie mit Nachdruck einen sofortigen Waffenstillstand und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe.“ Die Kulturschaffenden unterstrichen klar und deutlich, dass Worte im Umgang mit der israelischen Regierung nicht mehr ausreichen. Die Promis verurteilten „die grauenvollen Verbrechen der Hamas aufs Schärfste“. Allerdings wiesen sie darauf hin, dass kein Verbrechen es legitimiere, „Millionen von unschuldigen Menschen auf brutalste Weise kollektiv zu bestrafen“. Die israelische Regierung weiterhin vollumfänglich zu unterstützen, während Gaza ausgehungert werde und Auffanglager für Hunderttausende Menschen geplant werden, habe mit deutscher Staatsräson „rein gar nichts zu tun“, so die Unterzeichner. Echte Menschlichkeit beginne dort, „wo politisches Kalkül endet. Sie brechen durch entschlossenes Handeln für die Zivilbevölkerung in Gaza nicht mit deutscher Staatsräson, Sie wahren sie.“

Selbst Israelis geht das Vorgehen ihrer Regierung zu weit

Selbst unter Israelis formieren sich Widerstand gegen die militärische Eskalation und Misstrauen gegen Netanjahu. Bis zu 80 Prozent der Israelis wollen laut Umfragen ein Ende der Kampfhandlungen. Der renommierte israelische Autor David Grossman bezeichnete die Vorgänge im Gazastreifen in einem Interview mit „La Repubblica“ sogar als „Genozid“, ein Begriff, den er nach eigenen Angaben jahrelang vermied. „Ich gebrauche dieses Wort mit unermesslichem Schmerz und einem gebrochenen Herzen“, gestand der 71-jährige Schriftsteller. Zudem sehen zwei der renommiertesten israelischen Menschenrechtsorganisationen im Gazakrieg klare Merkmale eines Völkermords: B'Tselem, die seit Jahrzehnten israelische Besatzungspolitik dokumentiert, und Physicians for Human Rights, die medizinische Kriegsfolgen untersuchen, legen in ihren Berichten übereinstimmend Beweise für eine systematische Vernichtung vor.

Israelischer Holocaustforscher spricht von erfüllten Kriterien für einen „Genozid“

Der israelische Genozidforscher Omer Bartov sprach in einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ zunächst von einer „Dehumanisierung“ in Bezug auf die palästinensische Bevölkerung in Gaza: „Wenn man Menschen als Kakerlaken, als Ungeziefer oder ‚menschliche Tiere‘ bezeichnet, wie es auch israelische Politiker getan haben, ist man auf diesem Pfad“, sagte der Historiker. Gleichwohl erklärte der Hochschulprofessor, dass mehrere Kriterien für einen „Genozid“ bereits erfüllt seien, denn die israelische Regierung schaffe Bedingungen, unter denen das Überleben der Menschen in Gaza nicht mehr möglich sei. Die „systematische Zerstörung der Infrastruktur, Lebensgrundlage und Bevölkerung“ von Gaza, die „gezielte Zerstörung von Krankenhäusern, gezielter Tötung von Ärztinnen und Pflegepersonal, bis hin zur vollständigen Ausschaltung medizinischer Versorgung“ sowie die „gezielte Verweigerung von Nahrung und medizinischer Hilfe“ sei ein Versuch, eine Bevölkerungsgruppe als solche zu vernichten. Der 71-Jährige sagte überdies, dass Bedingungen geschaffen werden, „unter denen das Überleben nicht mehr möglich ist. Das reiche von der „Zerstörung von Wasseranlagen über die Bombardierung von Bäckereien bis hin zu verseuchtem Trinkwasser“. Die Botschaft sei: „Gaza darf kein Ort mehr sein, an dem Menschen leben können“. Der Forscher betonte zudem, dass Völkermord-Verantwortliche ihre Genozid-Pläne niemals offen aussprechen würden, was die Beweisführung zusätzlich erschwere.

Genozidforscher warnt Deutschland vor „historischer Mitverantwortung“

Zugleich warnte Bartov gerade Deutschland vor einer historischen Mitverantwortung. Sollte der Internationale Gerichtshof (IGH) Israels Kriegsführung als Genozid einstufen, wovon Bartov ausgeht, trüge auch Deutschland als Waffenlieferant einen „Makel, der sich nicht mehr auslöschen lässt“. Besonders brisant: Die deutsche Marineausrüstung sei „keine Randnotiz, sondern ein zentrales Element dieses Kriegs“, da sie die Gaza-Blockade ermögliche. Bartovs Appell an Berlin war eindeutig: „Staatsräson darf kein Blankoscheck sein.“ Deutschland müsse sich zwar zu seiner historischen Verantwortung bekennen, aber „nicht bedingungslos gegenüber jeder Regierung“. Konkret forderte er einen Waffenstopp, keine diplomatische Rückendeckung mehr für Netanjahu sowie eine klare Benennung von Völkerrechtsbrüchen, egal wo sie geschehen. Sein Rat ist zugleich Mahnung und Wegweisung: „Wer Israel schützen will, darf Netanjahus Regierung nicht unterstützen.“ Denn was in Gaza geschieht, sei „auch eine Katastrophe für Israel selbst“. Ein Urteil, das ausgerechnet von einem israelischen Historiker kommt, sollte Berlin zu denken geben. Bereits im Juni hatte Avi Primor, der frühere israelische Botschafter in Deutschland, eine deutlichere Kritik von Kanzler Friedrich Merz an der israelischen Strategie im Gazastreifen moniert. Ex-Regierungschef Ehud Olmert wirft der israelischen Regierung schon seit Wochen schwere Kriegsverbrechen vor.

Wo bleibt die Kritik der „kritischen Stimmen“?

Umso befremdlicher wirkt das Schweigen jener selbsternannten „kritischen Stimmen“, die sich medial gern als unabhängige Aufklärer inszenieren, doch angesichts dokumentierter israelischer Kriegsverbrechen auffallend verstummen. Liegt es daran, dass diese Akteure, teils von zionistischen Organisationen protegiert und finanziert werden? Ihr selektiver Zorn verrät sie: Während sie anderswo lautstark moralische Prinzipien einfordern, zeigen sie sich gegenüber Netanjahus „rassistischer Regierung“ auffällig nachsichtig.

Wirf einen Blick auf TRT Global. Teile uns deine Meinung mit!
Contact us