Lange Zeit wurde Deutschland in den internationalen Beziehungen als Zivilmacht beschrieben. Darunter verstand man einen Staat, der seinen Einfluss vor allem durch Diplomatie, wirtschaftliche Stärke und die Bindung an gemeinsame Regeln ausübt. Sogenannte Zivilmächte, traditionell Japan und Deutschland, inzwischen auch die Europäische Union, waren eng an die liberale Weltordnung gebunden, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA geprägt wurde. Diese Akteure setzten auf die Einhaltung multilateraler Regeln, handelten zurückhaltend in Fragen des Militäreinsatzes und galten als Stabilitätsanker in einer normbasierten Ordnung.
Doch dieses Paradigma gerät ins Wanken. Spätestens der Krieg zwischen der Ukraine und Russland hat gezeigt, dass die klassische Vorstellung von Zivilmacht nicht mehr ausreicht, um auf die geopolitischen Herausforderungen zu reagieren. Hinzu kommt die Erfahrung mit den USA unter Donald Trump. Seine Politik machte deutlich, dass Washington Europa sicherheitspolitisch auch im Stich lassen kann und dass es für Berlin und die EU keine Garantie für ewige transatlantische Loyalität gibt. Deutschland und Europa mussten erkennen: In einer Welt, in der harte Macht und Realpolitik zurückkehren, reicht der Verweis auf liberale Werte nicht mehr aus.
Die Wehrpflicht als Testfall für eine neue Sicherheitspolitik
Vor diesem Hintergrund diskutiert Deutschland nun die teilweise Wiedereinführung der Wehrpflicht. Ziel des neuen Wehrdienstgesetzes ist es, die Personalnot der Bundeswehr zu beheben und gleichzeitig die NATO-Verpflichtungen zuverlässig erfüllen zu können. Derzeit verfügt die Bundeswehr über etwa 182.000 Soldatinnen und Soldaten. Bis 2035 soll die Zahl auf 260.000 steigen. Auch die Reserve soll von aktuell 100.000 auf 200.000 ausgebaut werden. Doch seit Jahren bleibt die Bundeswehr hinter ihren Zielvorgaben zurück. Rekrutierungskampagnen, finanzielle Anreize und Imageinitiativen haben bisher kaum Wirkung gezeigt.
Der Gesetzentwurf setzt auf ein hybrides Modell. Einerseits steht die Freiwilligkeit im Zentrum: Alle jungen Männer und Frauen erhalten zum 18. Geburtstag einen Online-Fragebogen. Für Männer besteht eine Pflicht zur Beantwortung, für Frauen ist dies freiwillig. Geeignete Kandidaten werden zur Musterung eingeladen. Ab 2027 soll die ärztliche Untersuchung für alle Männer wieder verpflichtend sein. Andererseits verleiht der neue Paragraf 2a im Wehrpflichtgesetz der Bundesregierung die Möglichkeit, im Bedarfsfall per Rechtsverordnung die Wehrpflicht zu aktivieren, auch außerhalb eines Spannungs- oder Verteidigungsfalls. Der Bundestag muss zustimmen, doch klar ist: Wenn sich nicht genug Freiwillige melden, könnte die Pflicht zurückkehren.
Dieses Vorhaben ist in der Gesellschaft und in der Politik hoch umstritten. Befürworter verweisen auf die sicherheitspolitischen Realitäten, Kritiker auf den Druck auf junge Menschen sowie auf antimilitaristische Grundhaltungen in Teilen der Gesellschaft. Klar ist jedoch: Ohne eine Stärkung ihrer Streitkräfte kann Deutschland weder seine NATO-Verpflichtungen erfüllen noch seine eigene Sicherheit garantieren.
Globale Realpolitik und die Grenzen des Zivilmacht-Konzepts
Ein Blick auf die weltweite Rangliste macht die Dimension deutlich. Im Jahr 2025 führt China mit 2.035.000 Soldaten die Liste an. Indien folgt mit 1.455.550, die USA mit 1.328.000. Russland und Nordkorea verfügen jeweils über 1.320.000 Soldaten. Die Ukraine hat kriegsbedingt 900.000 Soldaten unter Waffen. Pakistan bringt es auf 654.000, Iran auf 610.000 und Südkorea auf 600.000. Deutschland dagegen kommt gerade einmal auf 181.600 Soldaten und belegt damit Rang 31 weltweit. Angesichts seiner wirtschaftlichen Stärke und seines Gewichts innerhalb der NATO ist dies ein eklatanter Widerspruch.
Wir erleben eine Zeitenwende, in der Realpolitik die Oberhand gewinnt. Liberale Ansätze und multilaterale Institutionen haben an Handlungsfähigkeit verloren. Internationale Organisationen, die lange als Garanten kollektiver Sicherheit galten, wirken gelähmt und entscheidungsschwach. Die Welt ist ungeduldig geworden: Staaten und Gesellschaften erwarten schnelle Antworten auf Krisen. Wer diese liefern kann, gewinnt an Einfluss.
Die großen Mächte China, Russland und Indien investieren massiv in ihre Armeen, sowohl in Menschen als auch in Material. Sie verbinden ökonomische Stärke mit militärischer Aufrüstung und untermauern damit ihren Anspruch auf globale Gestaltungsmacht. Deutschland hingegen hielt lange an der Zivilmacht-Idee fest, wollte sich von dieser militarisierten Logik fernhalten. Doch die Realität, vor allem der Krieg in der Ukraine, zwingt Berlin nun, sich der neuen Weltlage zu stellen.
Die eigentliche Frage lautet also: Kann Deutschland noch länger Zivilmacht bleiben? Oder muss es sich der Realpolitik anpassen, um seine eigene Sicherheit und die Europas zu gewährleisten? Eine rein normative, liberale Außenpolitik ohne militärische Substanz wirkt angesichts der globalen Entwicklungen zunehmend illusorisch. Wenn Berlin die Kluft zwischen politischem Anspruch und militärischer Wirklichkeit nicht überwindet, droht Deutschland in den sicherheitspolitischen Fragen marginalisiert zu werden.
Die Zeiten, in denen Diplomatie allein genügte, scheinen vorbei. Deutschland muss eine neue Balance finden, zwischen dem Erbe als Zivilmacht und der Notwendigkeit, militärische Stärke aufzubauen. Nur so kann es in einer Welt bestehen, in der Realpolitik und Machtpolitik wieder das Sagen haben.