Seit dem Ende des Kalten Krieges beruhte die europäische Sicherheit im Kern auf einer simplen Formel: Die Vereinigten Staaten führten, Europa folgte. Washington stellte nicht nur militärische Kapazitäten und nukleare Abschreckung bereit, sondern auch den politischen Rahmen, der es den Europäern ermöglichte, Differenzen zu überbrücken. Die NATO war damit kein Bündnis anarchischer Staaten, sondern ein von den USA stabilisierter Sicherheitsraum.
Mit der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus droht dieses Fundament wegzubrechen. Der Präsident attackiert Europa unentwegt: mit Strafzöllen, mit harschen Forderungen nach höheren Verteidigungsausgaben und – am schwerwiegendsten – mit der Drohung, die Unterstützung für die Ukraine zu beenden. Trumps Botschaft ist klar: Europa kann nicht länger auf die amerikanische Führung zählen. Noch deutlicher wurde US-Vizepräsident J.D. Vance, der auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Europäern ins Gesicht sagte, sie sollten endlich selbst für ihre Sicherheit sorgen.
Damit steht Europa vor einer gefährlichen Situation. Die bisherige Ordnung bricht weg, ein Macht- und Führungsvakuum entsteht. Wer soll es füllen? Frankreich und Deutschland wären die natürlichen Kandidaten. Doch beide Regierungen sind geschwächt: Emmanuel Macron ringt innenpolitisch mit einer Regierungskrise, Bundeskanzler Friedrich Merz kämpft darum, seine noch junge Koalition zu stabilisieren. Auch außenpolitisch treten beide Länder auf der Stelle. Der deutsch-französische Ministerrat vergangene Woche in Toulon zeigte es exemplarisch: viel Symbolik, viele Versprechen, aber keine konkreten Ergebnisse.
Gerade in dieser Lage wäre entschlossene Zusammenarbeit zwischen Paris und Berlin nötig. Doch stattdessen verharren beide Seiten in Blockaden – ob beim gemeinsamen Rüstungsprojekt FCAS oder in der Frage einer eigenständigen europäischen Abschreckung. Vor wenigen Monaten hatte Macron noch angedeutet, Frankreich könne im Falle eines Rückzugs der USA die nukleare Verantwortung für Europa übernehmen. Berlin reagierte zurückhaltend. Von gemeinsamer strategischer Führung keine Spur.
Die Gefahr liegt auf der Hand: Wenn die Vereinigten Staaten ihre Führungsrolle aufgeben und Frankreich und Deutschland nicht in der Lage sind, das Vakuum gemeinsam zu füllen, droht nicht nur ein Machtverlust Europas. Viel gravierender wäre ein Rückfall in alte Muster – in Rivalität zwischen Paris und Berlin. In einer Zeit, in der Europa Geschlossenheit bräuchte, könnte die Kluft zwischen den beiden größten Mächten des Kontinents wieder aufbrechen.
Ohne Amerika zurück in die Anarchie?
Wenn man die aktuelle Krise verstehen will, lohnt ein Blick auf die Theorie der Internationalen Beziehungen. Realisten betonen, dass das internationale System von Anarchie geprägt ist: Es gibt keine übergeordnete Autorität, Staaten leben in ständiger Unsicherheit und müssen selbst für ihre Sicherheit sorgen. Internationale Organisationen ändern daran wenig. Das Ergebnis ist das Sicherheitsdilemma: Rüstet ein Staat auf, fühlt sich der andere bedroht – und rüstet ebenfalls auf.
Doch gerade Europa war in den letzten Jahrzehnten eine Ausnahme von dieser Regel. Im transatlantischen Raum herrschte keine pure Anarchie, sondern eine faktische Führungsordnung. Die Vereinigten Staaten übernahmen in der NATO die Rolle des Schiedsrichters, stellten die nukleare Abschreckung bereit und verhinderten, dass alte Rivalitäten – etwa zwischen Frankreich und Deutschland – wieder offen aufflammten. Die NATO war damit weniger ein anarchisches System, sondern eher eine von Washington regulierte Sicherheitsgemeinschaft.
Genau dieses Gefüge gerät nun ins Wanken. Trump macht unmissverständlich klar, dass er diese Führungsrolle nicht mehr in alter Form übernehmen will. US-Außenminister Marco Rubio formulierte es noch deutlicher: Künftig werde die US-Regierung ihre Politik nicht mehr primär an Bündnissen ausrichten, sondern an den bilateralen Beziehungen zu einzelnen Staaten – und daran, ob diese den amerikanischen Interessen nützen oder nicht.
Wie ernst es die USA meinen, zeigt der jüngste Handelsdeal: Die Autozölle auf europäische Fahrzeuge sinken zwar von 27,5 auf 15 Prozent, gleichzeitig verpflichtet sich die EU jedoch, sämtliche Zölle auf US-Industriegüter abzuschaffen und amerikanische Energie im Wert von 750 Milliarden Dollar zu kaufen – plus 600 Milliarden an Investitionen in den USA. Kritiker in Europa sprechen von einer „bitteren Pille“ und einem unausgewogenen Abkommen, das klar zugunsten der USA ausfällt.
Noch gravierender ist die Lage im Ukraine-Krieg. Während Kiew auf eine klare Sicherheitsgarantie hofft, fährt Washington einen Zickzack-Kurs. Trump droht offen, die Unterstützung einzustellen, sollte es keine Verhandlungen geben. Mal lässt er durchblicken, die Ukraine könne Russland ohnehin nicht besiegen, mal warnt er die Europäer, sie würden im Ernstfall allein gelassen. Die Botschaft ist klar: Die USA wollen nicht länger bedingungslos die Bürde der europäischen Sicherheit tragen.
Damit ist eines offensichtlich geworden: Selbst wenn Washington nicht sofort alle Zusagen zurückzieht, ist die alte Gewissheit verloren. Europa kann sich nicht mehr blind auf die Vereinigten Staaten verlassen. Das transatlantische Bündnis, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg bestand, steht an einem historischen Wendepunkt. Und damit stellt sich unausweichlich die nächste Frage: Können Länder wie Frankreich und Deutschland die freiwerdende Führungsrolle übernehmen – gemeinsam oder jeder für sich?
Transatlantisches Bündnis am Wendepunkt – und Europa bleibt ohne Führung
Europa wurde von Trumps Politik kalt erwischt. Von Paris und Berlin erwartete man Führung, doch beide Länder sind innenpolitisch geschwächt: Frankreich steckt in einer Dauerkrise, Macrons Lager ist zersplittert. Auch Deutschland kämpft mit politischer Instabilität. Merz wurde zwar Kanzler, doch die CDU erzielte eines der schwächsten Ergebnisse ihrer Geschichte, der Koalitionspartner SPD stürzte ab – und die AfD ist mittlerweile in Umfragen stärkste Kraft. Das Vertrauen in Merz ist entsprechend gering.
Unter dieser schwachen Führung bleiben auch die bilateralen Beziehungen zwischen Paris und Berlin auf symbolischer Ebene stecken. Man trifft sich, man lächelt, man präsentiert Dokumente – doch konkrete Politik bleibt aus. Die Zeit läuft jedoch davon. Der Ukraine-Krieg macht klar: Europa hat keine Jahre mehr für endlose Gipfel und symbolische Gesten. Es braucht jetzt Entscheidungen, handfeste Projekte, echte sicherheitspolitische Fortschritte.
Geschieht das nicht, droht ein gefährliches Szenario. Die deutsch-französische Zusammenarbeit könnte in Rivalität umschlagen, Europa sich in konkurrierende Blöcke aufspalten. Machtpolitische Vakuums werden in der internationalen Politik niemals lange leer bleiben – sie werden gefüllt, ob von inneren Rivalen oder äußeren Mächten. Für Frankreich und Deutschland gilt daher: Jetzt handeln – ansonsten ist es zu spät.