Zahlreiche Mitarbeiter von Reuters werfen der Nachrichtenagentur bei der Berichterstattung über den Gaza-Krieg eine pro-israelische Voreingenommenheit vor. In einem Bericht der Investigativ-Gruppe „Declassified UK“ vom Donnerstag schildern sie ihre Auseinandersetzungen mit der Geschäftsleitung und sprechen von einer internen Studie und einem offenen Brief.
Hintergrund der Vorwürfe ist unter anderem die Ermordung des palästinensischen Journalisten Anas al-Sharif vor wenigen Wochen durch die israelische Armee im Gazastreifen. Reuters hatte zu dem Fall einen Bericht mit dem Titel „Israel tötet Al-Jazeera-Journalisten, den es als Hamas-Führer bezeichnet“ veröffentlicht. Die Nachrichtenagentur wählte diese Überschrift, obwohl al-Sharif früher für sie gearbeitet hatte – er war Teil eines Reuters-Teams, das 2024 den Pulitzer-Preis gewann.
Das löste im Internet eine Welle der Empörung aus, verstärkte aber auch die Besorgnis unter den einigen Mitarbeitern. Die einflussreiche Nachrichtenagentur, die 1851 in London gegründet wurde, erreicht heute täglich mehr als eine Milliarde Menschen.
Mehrere Reuters-Mitarbeiter haben daraufhin gegenüber „Declassified UK“ über das Arbeitsklima in der Agentur und die pro-israelische Voreingenommenheit von Redakteuren und Führungskräften des Unternehmens gesprochen. Um Repressalien zu vermeiden, sollen sie dabei um Anonymität gebeten haben.
So soll ein Redakteur, der bereits im August 2024 kündigte, seinem Kollegen in einer E-Mail geschrieben haben: „Durch die Berichterstattung über den sogenannten Israel-Hamas-Krieg habe ich erkannt, dass meine Werte nicht mit denen des Unternehmens übereinstimmen.“
Er habe einen Bericht und einen offenen Brief beigefügt, „den einige Kollegen und ich an die Geschäftsleitung geschickt haben, in der Hoffnung, dass Reuters grundlegende journalistische Prinzipien einhält, aber ich habe nun erkannt, dass die Führungsspitze sich wahrscheinlich nicht ändern wird, geschweige denn damit aufhören wird, Kritik aktiv zu unterdrücken“, heißt es demnach weiter in der E-mail.
Heather Carpenter, Kommunikationsdirektorin bei Reuters, bestritt gegenüber Declassified, dass das Unternehmen jemals diesen Brief erhalten habe.
Ein Insider erklärte jedoch gegenüber „Declassified UK“, dass einige Wochen nach dem 7. Oktober mehrere Reuters-Journalisten erkannt hätten, dass die Berichterstattung der Nachrichtenagentur über den Krieg in Gaza nicht objektiv gewesen sei. Als Reaktion darauf habe eine Gruppe von Journalisten „eine umfassende interne Untersuchung“ und Analysen zur Reuters-Berichterstattung durchgeführt.
Die Ergebnisse hätten die Grundlage für einen offenen Brief gebildet, der intern geteilt wurde, „um Journalisten innerhalb der Redaktion zu identifizieren und miteinander zu vernetzen, die sich für die Stärkung des Journalismus von Reuters über Gaza einsetzen.“
Ihre interne Studie, die „Declassified UK“ vorliegt, analysierte demnach 499 Reuters-Berichte mit dem Hashtag „Israel-Palästina“, die zwischen dem 7. Oktober und dem 14. November 2023 veröffentlicht wurden.
Nach eigenen Angaben haben die Journalisten dabei ein „konsistentes Muster“ festgestellt, wonach „mehr Ressourcen für die Berichterstattung über Ereignisse eingesetzt wurden, die Israelis betrafen, als für solche, die Palästinenser betrafen“. Zum Zeitpunkt ihrer Analyse waren Berichten zufolge über 11.000 Palästinenser in Gaza getötet worden, etwa zehnmal so viele wie Israelis.
Die Journalisten stellten außerdem in dem offenen Brief die Frage, warum Reuters nicht ausführlicher über die Behauptungen von Experten berichtet habe, dass Israel in Gaza einen Völkermord begeht. Schließlich sei die Nachrichtenagentur bei Russlands Vorgehen in der Ukraine mit solchen Vorwürfen anders umgegangen. Die Autoren beklagten außerdem das Verbot zur Verwendung des Begriffs „Palästina“. „Auch wenn Palästina in einigen westlichen Ländern nicht als Staat anerkannt ist, müssen wir nicht so tun, als wäre es kein realer Ort“, heißt es darin.
In dem offenen Brief wurde zudem angeprangert, dass bei der Berichterstattung die Sicht der IDF immer eingebettet wurde, dagegen die Tötung von Journalisten in Gaza von Reuters nie aktiv verurteilt wurde. Ebenso sei der illegale Siedlerkolonialismus und die Apartheid Israels bei der Reuters-Berichterstattung über den Gaza-Krieg stets außer Acht gelassen worden.
Zwar habe es im Mai im redaktionellen Leitfaden ein kleines Update gegeben, doch die Auswirkungen seien ähnlich geblieben. Obwohl Reuters-Journalisten damit erlaubt wurde, künftig das Wort „Genozid“ mit einer Quellenangabe zu benutzen, hat die Nachrichtenagentur laut Recherchen von „Declassified UK“ zwischen dem 21. Juni und dem 7. August das Wort „Genozid“ in nur 14 von 300 Berichten zum Gaza-Krieg verwendet. In 80 Prozent dieser 14 Berichte sei zudem erwähnt worden, dass Israel jegliche Genozid-Vorwürfe ablehnt. Häufig seien Begriffe wie „Krieg“, „Kampagne“, „Konflikt“, „Eskalation“ und „Angriff“ eingesetzt worden, um das Wort „Genozid“ zu umgehen.
Nach Einschätzung des UN-Menschenrechtsanwalts Craig Mokhiber hat Reuters „zweifellos bewusst entschieden, den Völkermord vor ihrem Publikum zu verbergen, die palästinensischen Opfer systematisch zu entmenschlichen und die israelischen Täter vor der Rechenschaftspflicht zu schützen.“